Atlas der Zivilgesellschaft: Nur vier Prozent der Menschheit lebt in Freiheit
Demokratie und Menschenrechte sind weltweit unter Druck. "Brot für die Welt" warnt vor den Folgen, die das auch für Entwicklung im globalen Süden hat.
Von den 196 Staaten der Welt behindern und beschneiden 150 die Freiheitsrechte der Menschen, die dort leben. Nur vier Prozent der Menschheit leben aktuell in wirklich offenen Gesellschaften, heißt es im "Atlas der Zivilgesellschaft", den "Brot für die Welt" und das globale Netzwerk Civicus jetzt zum zweiten Mal gemeinsam vorgestellt haben. Die Daten stammen aus Informationen von Partnerorganisationen des evangelischen Hilfswerks und von Civicus, einer in den 1990er Jahren gegründete Beobachtungsstelle für Grundrechte mit Sitz in Südafrika.
EU: Nicht nur Ungarn unterdrückt Bürgerrechte
Auch die Europäische Union ist darin nicht als der gleichmäßige "Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts" zu erkennen, als den sie sich selbst gern preist. Wirklich voll und ganz respektiert und geschützt sind die Freiheitsrechte auch in EU-Europa nur für gut die Hälfte der Bürgerinnen und Bürger (54 Prozent), unter anderem in Deutschland. Ungarn ist der einzige hell-ockerfarbene Fleck im EU-Raum. Die Farbe bedeutet, dass in dem markierten Land die Menschen- und Bürgerrechte "eingeschränkt" sind. Aber auch in Frankreich, beim EU-Austrittskandidaten Großbritannien und praktisch im gesamten Süden der Union - rühmliche Ausnahme ist Portugal - beurteilt der Atlas die Lage als "beeinträchtigt". Das bedeutet, dass Personen und Organisationen zwar im großen und ganzen frei sind, aber gelegentlich juristisch schikaniert werden oder der Staat teils mit übergroßer Gewalt gegen Demonstranten vorgeht. Auch die im Grunde freie Presse wird dort durch bestimmte Regeln gegängelt oder es wird Druck auf Medienleute ausgeübt. In die Kategorie "beeinträchtigt" sortiert die Übersicht auch die USA ein. Die Entwicklung in Europa nennt der Forschungsleiter von Civicus Mandeep Tiwana "besorgniserregend". Da die EU eine Verfechterin der Menschenrechte und Demokratie weltweit sei, schwäche ihre eigene Entwicklung diese Botschaft nun, sagt Tiwana: "Allerdings sind die europäischen Institutionen widerstandsfähig. Das hat etwa im September 2018 das Europäische Parlament bewiesen, als es ein Verfahren gegen die ungarische Regierung einleitete."
"Die autoritäre Wende hat 2018 an Dynamik gewonnen"
Dabei ist ein nur "beeinträchtigter" gesellschaftlicher Raum die mildeste Form der Abweichung von wirklicher Freiheit - was, so die Autorinnen und Autoren der Studie, nicht bedeutet, dass die Lage in als "offen" bezeichneten Ländern wie Deutschland, Uruguay, den Salomonen-Inseln oder Schweden perfekt sei. Die weiteren Kategorien sind "eingeschränkt" - eben die Kategorie, in der Ungarn steht -, "unterdrückt" und "geschlossen". In Staaten, die in die Kategorie "geschlossen" fallen, sind Vereinigungs-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit ausgesetzt, und wer sie sich nimmt, dem droht Haft, Misshandlung oder sogar der Tod. Medien werden zensiert, das Internet blockiert und die Übergriffe der Mächtigen bleiben unbestraft, es herrscht eine Atmosphäre der Angst. Als "geschlossen" stuft der Atlas 23 Staaten ein, darunter Ägypten, China, Kuba, Saudi-Arabien, Syrien, Usbekistan und Vietnam. Mehr als ein Viertel der Weltbevölkerung, 27 Prozent, müssen unter solchen Bedingungen leben.
Dabei sei 2018 "ein Jahr der Polarisierung" gewesen: "Die autoritäre Wende, die vor einiger Zeit eingesetzt hat, gewinnt an Dynamik", heißt es in der Studie. Es gebe einen "systematischen, globalen Angriff auf die Zivilgesellschaft". Regierungen zögen sich aus Systemen und Verträgen zurück, die Menschen- und Grundrechte schützten. Der "Kampfbegriff Souveränität" werde benutzt, Minderheitenrechte, grenzübergreifende Bündnisse und internationale Organisationen zur Konfliktlösung wie die UN zu schleifen. Da dies soziale Proteste provoziere, werde auch die Unterdrückung härter. Diese autoritäre Wende sei auch in Europa angekommen. In ihrem Vorwort zum Atlas schreibt die Präsidentin von "Brot für die Welt", Cornelia Füllkrug-Weitzel, wenn in Europa Seenotrettung diffamiert und das Engagement fürs Asylrecht als Angriff auf den Rechtsstaat abgekanzelt werde, sehe sie "erschreckende Parallelen" zu Erfahrungen, die ihre Organisation und deren Partnerinnen in der Dritten Welt machten.
Deutschland soll für Freiheit auch anderswo sorgen
"Brot für die Welt", die Entwicklungsorganisation der deutschen evangelischen Kirche, begründet ihre Zusammenarbeit mit Civicus eben mit ihrer Entwicklungsaufgabe: Die Freiheit der Zivilgesellschaft sei "ein genuin entwicklungspolitisches Anliegen". Ohne Druck von dort werde keine Kernfrage von Entwicklung gelöst, seien es Arbeiterrechte, Umweltschutz, Frauenrechte, soziale Sicherung oder der Zugang zu Bildung. Die meisten Proteste weltweit, die dann brutale Unterdrückung nach sich zögen, gälten genau diesen sozialen und wirtschaftlichen Fragen. Im Atlas wird auch darauf hingewiesen, dass Ungleichheit und Unfreiheit in engem Verhältnis stehen: Wo der Reichtum einer Gesellschaft gleichmäßiger verteilt sei, gebe es in der Regel auch mehr Garantien für Menschen- und Bürgerrechte.
Die Bundesregierung rief Füllkrug-Weitzel auf, international Verantwortung zu übernehmen. Sie müsse "sicherstellen, dass ihre eigenen Wirtschafts- und Sicherheitspolitiken nicht zur Einschränkung von zivilgesellschaftlichen Handlungsräumen in anderen Ländern führen".