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Die Flüchtlinge und wir: Nur noch die Bilder sind geblieben

Egal wohin es sie verschlägt - Fotos sind für Flüchtlinge als Zeichen früherer Zugehörigkeit unersetzlich. Und wenn sie zu uns flüchten, führt uns die Frage, wer die Anderen sind, direkt zu der Frage, wer wir sind. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Caroline Fetscher

Als Erstes retten sie Fotoalben. Aus brennenden Häusern, Bergen von Trümmern, mitten in Panik, Entsetzen. Mit letzten Resten von Hoffnung greifen flüchtende Menschen nach Fotos. Sogar brutale Milizen haben das schon gestattet, wenn sie ganze Ortschaften „ethnisch gesäubert“ haben. Ihr habt zehn Minuten Zeit, um eure Fotos zu holen, haben sie den Leuten gesagt. Wer seine Bilder mitnimmt, ist besser zu vertreiben. Schneller.

Flüchtende greifen auch nach ihren Papieren, Zeugnissen und anderen Dokumenten ihrer Existenz. Aber vor allem wollen sie die wichtigsten Fotografien mitnehmen: von Großeltern, Eltern, ihre Hochzeitsbilder, Porträts geliebter Freunde. Denn diese Zeichen früherer Zugehörigkeiten sind unersetzlich. Egal wohin es einen verschlägt, tausende Kilometer weit weg – nirgends wird man je seine Erinnerungsstücke kaufen können, und wäre man eines Tages auch noch so wohlhabend.

Ihre Welt ist in Stücken

Wochen oder Monate später finden sich Geflüchtete an einem fernen Ort wieder, etwa an einem, der hier in Deutschland „Erstaufnahmeeinrichtung“ heißt oder „Containerdorf“. In ihrer Habe finden sich die privaten Bilder, verstaut in Reisekoffern, Jackentaschen. „Das ist meine Mutter“, erzählen sie anderen. „Das sind meine Brüder, meine Schwestern.“ „Das sind die Freunde aus meinem Fußballclub im Dorf.“ Aber die Welt, aus der die Bilder und Erinnerungen stammen, ist in Stücken.

„Wer sind wir?“ In diesen Tagen betreiben die Deutschen Seelenforschung: Sind wir gastfreundlich oder garstig fremdenfeindlich? Wie stehen wir zu den Asylsuchenden, wie viele sind es überhaupt, wohin mit ihnen, was kostet uns das, wann werden wir sie wieder los? Wir, wir, wir.

Wer sind die Anderen? Um diese Frage muss es zumindest auch gehen, wenn etwa in Berlin die Rede ist von den rund 12 000 Kindern, Frauen und Männern, die „mit laufendem Asylverfahren“ hier leben und zu denen bis Neujahr noch etwa eintausend dazukommen sollen, zu Berlins dreieinhalb Millionen Einwohnern. Die Dazugekommenen sind Handwerker, Lehrer, Ingenieure, Ärzte, Busfahrer, Musiker, Programmierer. Unter ihnen sind sympathische und weniger sympathische Leute, Kranke und Gesunde, Alte und Junge, wie überall.

Die Reise war ein großes Risiko

Das Wort „Flüchtling“ suggeriert ein passives, menschliches Objekt, wie Zögling, Säugling, Sträfling oder Prüfling. Geflüchtete sind allerdings besonders aktive Menschen mit besonders viel Mut. Ihre Reise war ein Risiko, sie wollten sich und andere in Sicherheit bringen. Übrigens: Flüchtlinge waren auch Albert Einstein, Marlene Dietrich, Anne Frank, Thomas Mann, Billy Wilder und tausende andere Deutsche. Und noch mal übrigens: An den Geflüchteten wird hier verdient. Was, 43 Millionen Euro kosten die „Containerdörfer“, die jetzt errichtet werden? Daran verdienen hier viele Menschen viel Geld. Das Geld wird zirkulieren, auf Weihnachtsmärkten, in Kaufhäusern, im gesamten Wirtschaftsraum.

Wenn Sie jetzt die Fotos Ihrer Familie und Freunde an der Wand oder in der Brieftasche ansehen, denken Sie an die geretteten Fotos in den Containern, Lagern, Unterkünften, an die traumatisierten Gäste der Gesellschaft, die diese Fotos in Händen halten. Sie wollen ihre Bilder irgendwann irgendwo hinstellen können, in einer eigenen Wohnung. Vielleicht hier im Land. Und hoffentlich bald.

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