Wer stoppt das Morden in Syrien?: Nur eines hilft - brutaler Realismus
Weil der Westen tatenlos ist und ratlos bleibt, beißt er sich an der russischen Unterstützung für Assad die Zähne aus. Aber es geht um Menschen, nicht um Sieg. Ein Kommentar.
Wer über das Morden in Aleppo die Hände ringt oder zur Faust ballt, muss bedenken, dass sich brutale Realität manchmal nur mit brutalem Realismus begreifen lässt. Dazu gehört: Baschar al-Assad hat seine Macht konsolidiert, ihn stürzen zu wollen, ist ein naiver Wunsch. Russland baut zur Unterstützung Assads seine Militärpräsenz weiter aus. Neben dem Luftwaffenstützpunkt bei Latakia soll in der Küstenstadt Tartus ein dauerhafter Marinestützpunkt entstehen. Mit Damaskus wurde außerdem die zeitlich unbegrenzte Stationierung der russischen Luftwaffe vereinbart.
Die Rebellengruppen wiederum sind in mehr als hundert Fraktionen zersplittert und zum Teil islamistisch beeinflusst. Die kleine moderate Opposition ist unbedeutend. Als zusammenhängendes Staatsgebilde wird es Syrien auf absehbare Zeit nicht mehr geben. Das Land bleibt zerstückelt und in mehrere Einflusszonen geteilt – Alawiten, Kurden, Sunniten, Schiiten. Und der Westen? Der beißt sich, weil er tatenlos ist und ratlos bleibt, seine Zähne an Russland aus. Doch zunächst ein kurzer Blick zurück.
Vor 15 Jahren, wenige Wochen nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001, begann auf Befehl des amerikanischen Präsidenten George W. Bush der Afghanistankrieg. Dessen Bilanz: rund eine Billion Euro an Militärausgaben, rund eine halbe Billion Euro für Entwicklungshilfe, knapp 100.000 Menschen wurden getötet, darunter 3500 der westlichen Allianz. Die Taliban wurden gestürzt, deren Macht ist nicht zerschlagen. Und auf Al Qaida folgte irgendwann der „Islamische Staat“.
Im März 2003 begann der Irakkrieg. „Shock and awe“ lautete die Devise, Schrecken und Ehrfurcht. Saddam Hussein wurde gestürzt, das Regime der sunnitischen Baath-Partei beendet. Die Kosten? 2,2 Billionen US-Dollar, 190.000 Tote, darunter 5000 US-Soldaten. In Bagdad übernahmen die Schiiten die Macht, die Mullahs in Teheran frohlockten.
Vor fünf Jahren begann der Bürgerkrieg in Syrien
Es kam der Arabische Frühling. In Ägypten wurde Hosni Mubarak gestürzt, ein Moslembruder wurde Präsident, dann wurde auch der wieder gestürzt. Geändert hat sich wenig. In Libyen wurde mit westlicher Hilfe Muammar al Gaddafi entmachtet, seitdem herrschen dort Chaos und Anarchie, Terrorgruppen machen sich breit, Flüchtlinge setzen von da aus zu Tausenden über das Mittelmeer.
Mit dieser deprimierenden Erfahrung im Nacken sahen Amerika und Europa, wie vor fünf Jahren der Bürgerkrieg in Syrien begann. Das letzte Quäntchen Optimismus war ihnen durch die Ereignisse im Maghreb geraubt worden. Noch einen Diktator stürzen? Wie? Selber Krieg führen? Um Himmels Willen, nein (siehe oben). Die Rebellen bewaffnen? Welche denn? Weil es auf keine Frage eine befriedigende Antwort gab, nahm das Gemetzel seinen Lauf. Und nun?
Es nützt nichts, von der eigenen Ratlosigkeit durch Fingerzeige gen Moskau ablenken zu wollen. Ja, es stimmt: Wladimir Putin hat sich zum Gegner des Westens gewandelt. Er hat die Krim annektiert, die Ostukraine destabilisiert, hegt Sympathien für Rechtspopulisten, lässt Cyberangriffe führen, unterdrückt jede Art von Opposition. Aber die Hoffnung, ihn durch Gesprächsverweigerung, Wirtschaftssanktionen oder UN-Resolutionen, gegen die Moskau ohnehin sein Veto einlegt, umstimmen zu können, illustriert nur die eigene Hilflosigkeit.
Nein, wenn der Westen die Lage wirklich befrieden will, muss er mit Putin reden und mit Assad, darf er die Rebellen nicht weiter zu einem Widerstand ermuntern, der aussichtslos ist, und er muss ein Ziel vor Augen haben. Das heißt: ein Kurdenstaat im Osten, aber nicht auf türkischem Gebiet; ein Alawitenstaat im Westen, kontrolliert von Assad; eine sunnitische Enklave im syrisch-irakischen Gebiet, ohne Mitsprache des IS. Entlang dieser Linien könnte eine Verständigung möglich sein. Es zu versuchen, sollte jedenfalls nicht an Gefühlen wie gekränkter Ehre oder verletztem Stolz scheitern. Es geht um Menschen, nicht um den Sieg.
Der Tagesspiegel kooperiert mit dem Umfrageinstitut Civey. Wenn Sie sich registrieren, tragen Sie zu besseren Ergebnissen bei. Mehr Informationen hier.