Europäische Russlandpolitik: Nur eine Reform der EU kann die Russland-Politik effektiver gestalten
Für eine gelungene Osteuropa-Politik braucht es ein unabhängiges EU-Außenministeramt, sagt der Politikwissenschaftler Jerzy Maćków.
Dieser Text ist Teil unserer Debatte zur deutschen Russlandpolitik. Hier finden Sie die übrigen Debattenbeiträge.
Das bekannte Defizit der EU, die über keine unabhängigen und handlungsfähigen außenpolitischen Institutionen verfügt, hat zur Folge, dass die angesichts der außergewöhnlichen Bedeutung der Ukraine-Krise für die Zukunft Europas belanglosen, jeweils nationalen politischen Konstellationen, Interessen und Lobbyisten direkten Einfluss auf jene Entscheidungen nehmen, die die Union als Ganzes betreffen. Dies gilt im besonderen Maße für das gegenwärtig zur Führungsmacht der EU erhobene Deutschland. Man kann hierzulande leider sehr leicht den Eindruck gewinnen, dass Exporte von Luxusautos und Rohstoffimporte wichtiger als die unabhängige Ukraine sind. Beachtet man zusätzlich noch das historisch gewachsene, spezifisch belastete Verhältnis Deutschlands zu Russland, das Schuldgefühle, den Wunsch nach wirtschaftlichen Geschäften, Überlegenheitskomplexe, eine jahrelang betriebene Russland-Politik der „Modernisierungspartnerschaft“ sowie das für diese Politik verantwortliche Personal, das sich nach der Krim-Annexion als von Putin „enttäuscht“ zeigt, einschließt, dann wird klar, weshalb die Bundesrepublik in der Ukraine-Krise vor dem Abschuss der MH17 unfähig war, konsequent und mutig zu handeln.
Deutsches Desinteresse an der Ukraine und "Russland-Zuerst“-Tradition
Die erste auffallende Eigenschaft der deutschen Haltung gegenüber der angegriffenen Ukraine und den russischen Völkerrechtsbrüchen ist es, dass sie sich selten aus dem Verhältnis der Deutschen zur Ukraine und zum Völkerrecht, sondern vielmehr aus deren Grundeinstellung zu Russland ergibt. Damit eng verbunden ist die zweite Eigenschaft: Das Desinteresse für die Ukraine, das manchmal sogar in so etwas wie Ärger darüber umschlägt, dass sie der in Deutschland üblichen unreflektierten Pflege des russischen Narrativs über die Geschichte und Gegenwart Osteuropas im Wege steht. Diese zwei Eigenschaften zeugen unmissverständlich vom Fortleben der „Russland-Zuerst“-Tradition, die seit dem 19. Jahrhundert über die legitimen Interessen der zwischen Berlin und Moskau liegenden Völker hinwegzusehen hilft.
Deutschland ist in der Einstellung zur Ukraine-Krise gespalten
Angesichts der russischen Aggressionspolitik ruft jedoch diese Tradition in der politischen Klasse zunehmend Widerspruch hervor. Aus ihm resultiert das dritte, auffälligste Kennzeichen der deutschen Einstellung zur Ukraine-Krise: Die Spaltung des Landes in dieser Frage, die besonders leicht an politischen Parteien und Bewegungen abzulesen ist. Grob betrachtet, beziehen die meisten Grünen und große Teile der CDU sowie der CSU die Position für die Ukraine und die Geltung des Völkerrechts. Währenddessen positionieren sich die SPD, Teile der CDU und der CSU, die Linke und Pegida entweder als verkappte bzw. „objektive“ Unterstützer Russlands („Russland-Versteher“) oder als offene Putin-Anhänger.
Das Ziel der russischen Europa-Politik ist Deutschland
Das alles in allem zweitgeteilte Meinungsbild der deutschen Öffentlichkeit kann vor diesem Hintergrund nicht überraschen. Umfragen zeigen, dass so in etwa die Hälfte der Deutschen die Krim am liebsten Russland zuschlagen und im Falle des russischen Angriffs den verbündeten Balten militärisch nicht helfen würde. Es ist verständlich, dass Nachrichten über solche Einstellungen in den bedrohten Ländern die Frage aufwirft, ob die Bundesrepublik nicht im „wohl verstandenen nationalen Interesse“, das von ihr für gewöhnlich merkantil definiert wird, auf ihre Kosten wieder einen Deal mit Russland schließen würde. Es ist ebenso verständlich, dass für Russland das Zielland seiner Europa-Politik Deutschland heißt: Gewinnen in der Führungsmacht der EU die Anhänger der „Russland-Zuerst“-Tradition dauerhaft Oberhand, steht der russische Staat einer nun komplett handlungsunfähigen Quasiföderation EU gegenüber.
Deutsche wissen zu wenig über Osteuropa
Die politische Spaltung Deutschlands in der Ukraine-Krise ist nicht nur eine Folge der historischen Entwicklung, sondern auch der Versäumnisse nach dem Zusammenbruch des Kommunismus. Besonders schwer fällt in diesem Zusammenhang die Tatsache ins Gewicht, dass selbst in den als seriös geltenden Medien sich oft Sprach- und Landesunkundige mit Osteuropa beschäftigen. In den Schulen wird nicht nur osteuropäische Landeskunde nicht gelehrt. Es ist in diesem Zusammenhang ein großes Verdienst der Historiker Anna Veronika Wendland und Karl Schlögel, dass sie in ihren in der Zeit der Ukraine-Krise erschienenen Publikationen mit den deutschen Osteuropa-Mythen aufzuräumen versuchen, indem sie immer wieder die selbstverständlichen und legitimen Selbstbestimmungsrechte der Völker „zwischen Berlin und Moskau“ unterstreichen. Ob es aber gelingt, zumindest den Angehörigen der politischen Klasse beizubringen, dass ein Blick auf die Karte genügt, um zu verstehen, dass Russland nicht „der wichtigste Nachbar Deutschlands im Osten“ ist, wird nicht von der Aufklärungsarbeit einiger weniger Historikern abhängen. Letzten Endes könnte nur der Erfolg der Ukraine bei Abwehr der russischen Aggression diese Arbeit richtig befördern.
Wenig deutsche Solidarität mit russischen Oppositionellen
Bis es so weit ist, wird es nur wenige Bürger der Bundesrepublik so richtig stören, dass ein ehemaliger Bundeskanzler sich offen als enger Freund Putins ausgibt und entgeltlich für Gazprom arbeitet und ein anderer während der Ukraine-Krise ebenso wagemutig wie ignorant den territorialen Zusammenhalt der Ukraine in Frage stellte: Sie setze sich doch aus der Krim, der „allesamt katholischen“ Westukraine und der Ostukraine, „dem Gebiet der Kiewer Rus‘, dem einstigen Kerngebiet Russlands“, zusammen.
Nicht gut ist es zudem um die Solidarität mit denjenigen, oft namenlosen Russen bestellt, die den mehr oder weniger direkten Widerspruch zum Regime Putin wagen: den noch verbliebenen freien Journalisten, Intellektuellen, den Müttern, die sich um ihre oft gegen ihren Willen in den Krieg geschickten Söhne kümmern, den letzten Oppositionspolitikern. Ihr Mut und ihre Bedeutung für Russland werden leider hierzulande kaum verstanden und gewürdigt. Gleich unzureichend ist die Solidarität mit dem heute wieder geschundenen muslimischen Volk der Krimtataren. Im „Petersburger Dialog“ sind sie jedenfalls nicht vertreten.
Angela Merkel weckt mit Putin-Kritik Hoffnung in der Ukraine
Die in der EU im Jahre 2014 so mächtige deutsche Regierungschefin hat Ende April 2015 bei Gelegenheit der deutsch-polnischen Regierungskonsultationen in Warschau ihren ehemaligen Freund Wladimir einen „hasserfüllten Lügner“ genannt, was an die Presse gelangte. Neben allen Problemen, die es in Deutschland mit der richtigen Einschätzung des russischen Regimes gibt, stellt diese Ächtung Putins die Hoffnung für die Ukraine, Europa und für politische Kultur Deutschlands dar. Was wird aber aus dieser Hoffnung für die Ukraine und Europa, falls die Kanzlerin – aus vielleicht nachvollziehbaren Gründen – die Macht in Deutschland verliert?
Die EU braucht ein in der Europäischen Kommission angesiedeltes Außenministeramt
Das Problem besteht darin, dass so recht niemand die Verantwortung für die Außenpolitik der EU übernehmen will. Die Erfahrung der Krisen der letzten Jahre beweist zugleich, dass die freiwillige Übernahme dieser Verantwortung Deutschland ausschließlich Probleme aufgebürdet hat. Ausgerechnet im deutschen Interesse liegt es deshalb, dafür zu arbeiten, dass sich die EU mittelfristig dazu durchringt, das europäische Außenministeramt der dem EU-Parlament verantwortlichen Europäischen Kommission zuzuordnen und mit Vollmachten sowie Ressourcen auszustatten, die es ihm möglich machen würden, Entscheidungen ohne Rücksicht auf die im Europäischen Rat vertretenen Regierungen zu treffen. Das würde selbstverständlich keine Garantie für die richtigen Entscheidungen, auf welchen außenpolitischen Feldern auch immer, darstellen. Vielmehr geht es darum, nicht zuletzt die europäische Russland-Politik vor nationalen Einflüssen zu schützen. Eine solche demokratische Verankerung der Außenpolitik der Union würde darüber hinaus Deutschland aus der Schusslinie der oft ungerechten Kritik nehmen, es würde in der Ukraine-Krise ausschließlich dem merkantil verstandenen Prinzip des nationalen Egoismus folgen. Zugleich würde sie jene deutschen Akteure, die so handeln wollen, nicht stören.
Prof. Dr. Jerzy Maćków lehrt Vergleichende Politikwissenschaft (Mittel- und Osteuropa) an der Universität Regensburg. Dieser Text ist dem Buch "Ukraine-Krise als die Krise Europas" entnommen, dessen Veröffentlichung vorbereitet wird.
Jerzy Maćków