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Im Flüchtlingslager Moria auf Lesbos leben derzeit rund 5500 Menschen. Zu Beginn dieser Woche kam es dort zu schweren Ausschreitungen zwischen Afghanen, Irakern und Syrern.
© Alkis Konstantinidis, Reuters

Flüchtlingspolitik: Not auf den griechischen Inseln

Überfüllte Lager, Gewalt und Kälte: Die griechische Regierung versucht gegenzusteuern. Sie verlegt Flüchtlinge auf das Festland.

Nach einem der schlimmsten Gewaltausbrüche im größten Flüchtlingslager auf den Ägäis-Inseln versuchen Menschenrechtsgruppen, mehr Druck auf die Regierung in Athen zu machen. Die Griechenlandbeauftragte von Human Rights Watch, Eva Cosse, erinnerte am Donnerstag an den Tod von fünf Menschen, darunter einem Kind, im Lager Moria auf Lesbos während der Kälte im vergangenen Winter: „Behörden in Griechenland und in der EU stehen in der Verantwortung, zu verhindern, dass sich solche Tragödien wiederholen.“

Bei Schlägereien zwischen verschiedenen Flüchtlingsgruppen im überfüllten Lager Moria waren Dienstagnacht mindestens 15 Insassen verletzt worden. Der Streit soll sich an der Benutzung der Toiletten entzündet haben. Das amerikanische Nachrichtenportal Buzzfeed hatte heimlich aufgenommene Videos von den Zuständen im Lager veröffentlicht. Sie zeigen völlig verdreckte sanitäre Anlagen, Müllberge und Lagerinsassen, die Regenwasser aus ihren Zelten schöpfen.

Kampagne "Öffnet die Inseln"

Ein Dutzend Menschenrechtsgruppen hatte zu Beginn des Monats eine Kampagne unter dem Slogan „Öffnet die Inseln“ gestartet. Der Grund sind die anhaltend prekären Zustände vor allem auf Lesbos, Chios und Samos. Seit September kommen wieder deutlich mehr Flüchtlinge auf den Inseln an.

Die Lager auf den Ägäis-Inseln sind mittlerweile so überfüllt, dass die griechische Regierung die Verlegung von 5000 Flüchtlingen aufs Festland bis Weihnachten verkündet hat. Das entspricht einem Drittel der Lagerbevölkerung auf den Inseln. Von den 5000 ist Athen noch weit entfernt, seit Beginn des Monats sind aber immerhin rund 2000 Menschen aus den Insellagern verlegt worden. Den jüngsten Angaben vom Mittwoch zufolge waren 13 674 Flüchtlinge auf den Inseln registriert.

Im März 2016 hatten die EU und die Türkei eine Vereinbarung geschlossen, die zunächst zu einer deutlichen Senkung der Flüchtlingszahlen in Griechenland führte. Die Vereinbarung sieht vor, dass Flüchtlinge, die durch Schlepper von der Türkei auf die griechischen Inseln gebracht wurden, wieder zurück in die Türkei geschickt werden. Zuvor müssen Asylanträge einzeln in Griechenland geprüft werden.

EU will neues Asylsystem beschließen

Aber das Abkommen wankt. Weil Asylbeamte und Berufungsrichter nicht in der Lage sind, zügig über die Anträge zu entscheiden, können pro Monat maximal 100 Flüchtlinge in die Türkei zurückgebracht werden, beklagt Gerald Knaus. Der Vorsitzende der Europäischen Stabilitätsinitiative (ESI), der als „Vordenker“ der Vereinbarung mit der Türkei gilt, hält zudem die Verlegung der Flüchtlinge auf das griechische Festland für kontraproduktiv. Ein solches Vorgehen verschärfe die humanitäre Situation eher noch, argumentiert Knaus, weil sich dadurch die Zahl der auf den Ägäischen Inseln ankommenden Flüchtlinge insgesamt erhöht. Noch mehr Flüchtlinge, die in der Türkei warten, werden die Fahrt nach Lesbos oder Chios wagen.

Athen versucht gegenzusteuern. Als der türkische Staatschef Tayyip Erdogan Anfang Dezember zu Besuch kam, schlug der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras eine kleine Nachbesserung am Flüchtlingsabkommen vor. Die Vereinbarung über die Rücknahme von Inselflüchtlingen soll auch für jene 5000 gelten, die eben nicht mehr auf den Inseln, sondern in besser ausgestatteten Lagern auf dem griechischen Festland untergebracht würden.

Um Ankunftsländer wie Griechenland oder Italien zu entlasten, will die EU im Juni 2018 ein neues Asylsystem beschließen. Unter anderem ist dabei ein Notfallmechanismus geplant, der die Ankunftsländer in Krisensituationen wie in den Jahren 2015 und 2016 entlasten soll. Trotz des Widerstands in Polen, Ungarn und Tschechien will die bulgarische EU-Ratspräsidentschaft ab dem Beginn des kommenden Jahres einen neuen Versuch unternehmen, um zwischen den 28 Mitgliedstaaten einen Kompromiss zu finden. Zahlreiche EU-Länder, darunter Deutschland und Frankreich, unterstützen den Plan, Flüchtlinge in Krisensituationen wie 2015/2016 nach einem verbindlichen Quotensystem in der gesamten EU zu verteilen. Der ESI-Vorsitzende Knaus hält die Diskussion über verbindliche Quoten für eine „Scheindebatte“. Die Vorstellung, dass Bulgarien im Quotenstreit unter den Europäern eine Lösung finden könne, sei „mehr als unrealistisch“, sagt er. Knaus verweist darauf, dass für Flüchtlinge in Bulgarien „Aufnahmebedingungen unter den EU-Standards“ herrschten. Die Anerkennungsquote für Flüchtlinge aus Afghanistan liege in dem südosteuropäischen EU- Land gerade einmal bei ein Prozent.

Verschärfte Situation in Syrien

Unterdessen verschärft sich auch die Lage für Flüchtlinge in Syrien und den benachbarten Ländern. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) warnt, dass die im September gestartete Winterhilfe für rund vier Millionen syrische und irakische Flüchtlinge nicht ausreichen wird. „Wir haben eine riesige Finanzierungslücke in der Winterkampagne des UNHCR“, sagte der Geschäftsführer der UN-Flüchtlingshilfe, Peter Ruhenstroth-Bauer, dem Tagesspiegel. Bislang sei nur etwa die Hälfte der zur Versorgung der Flüchtlinge veranschlagten 208 Millionen Euro eingegangen.

Die Unterfinanzierung habe unmittelbare Konsequenzen für die Winterhilfe für syrische Binnenvertriebene und in die Nachbarländer Geflüchteten, sagte Ruhenstroth-Bauer. „Aufgrund des Geldmangels können nicht ausreichend Heizöfen, Kerosin und Thermaldecken verteilt werden, Zelte werden nicht angemessen winterfest gemacht und wärmeisoliert, Camps nicht trockengelegt“, sagte Ruhenstroth-Bauer. Die Winterhilfe des UNHCR erreichte nach Angaben des Geschäftsführers bislang mehr als 205000 Binnenvertriebene in Syrien. Sie erhielten Winterkleidung, Thermodecken und Plastikplanen. Im vergangenen Winter hatte der UNHCR Winterhilfe für 3,9 Millionen Flüchtlinge geleistet.

Prekäre Situation auch in anderen Ländern

Die Auswirkungen seien für Tausende Flüchtlinge im Nahen Osten verheerend, warnte Ruhenstroth-Bauer. So lebten in den kältesten Regionen des Libanon – im Norden, in der Bekaa-Ebene und am Mount Libanon – die meisten syrischen Flüchtlinge, die in diesem Land Aufnahme gefunden haben.

Auch in anderen Nahost-Ländern befinden sich nach Angaben des Geschäftsführers viele Geflüchtete in einer prekären Situation. Zum Beispiel in Jordanien. „80 Prozent der syrischen Flüchtlinge in Jordanien leben unter der staatlichen Armutsgrenze von 81 Euro monatlich. Die meisten Haushalte sind stark verschuldet. Die Familien müssen unter unbeschreiblichen Bedingungen leben“, sagte Ruhenstroth-Bauer. Er wies darauf hin, dass eine der Ursachen für die Flüchtlingskatastrophe vor zwei Jahren auch die Kürzung der Nahrungsmittelprogramme der Vereinten Nationen war: Die Essensrationen mussten gekürzt werden.

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