May-Debakel in Großbritannien: Nichts ist stabil und sicher auf der Insel
Premierministerin Theresa May hat ihre Wahl vergeigt. Labour-Chef Jeremy Corbyn hat gewonnen, aber nicht gesiegt. Hängepartie in Westminster: Großbritannien ist weiter in der Krise. Ein Kommentar.
Schon merkwürdig, diese Briten. Vor einem Jahr haben sie sich, wenn auch mit einer knappen Mehrheit, für den Brexit entschieden, den Ausstieg aus der Europäischen Union. Am Donnerstag nun haben sie bei der vorgezogenen Unterhauswahl der Regierungschefin, die ihnen diesen Brexit liefern wollte, die Mehrheit verweigert. Theresa May hat sich mit der vorgezogenen Unterhauswahl spektakulär verschätzt. Statt einer satten Mehrheit für die Tories, welche May nutzen wollte, um sich innerparteilich eine unanfechtbare Position zu verschaffen und im Brexit-Kampf fünf Jahre Ruhe an der Wahlfront zu haben, stehen sie und ihre Konservativen als begossene Pudel da. Statt „strong and stable leadership“, starker und stabiler Führung, haben die Briten sich für ein Parlament ohne belastbare Mehrheit entschieden. Zwar wird sich May unter Mithilfe der nordirischen Unionisten (einer Rechtsaußentruppe) durchschleppen. Aber stabil und sicher regieren kann sie nicht.
Schlechter Wahlkampf
Wie David Cameron vor einem Jahr mit dem überflüssigen EU-Referendum hat sich May nun mit einer überflüssigen vorgezogenen Wahl in die Geschichtsbücher als gescheiterter Regierungschef eingetragen. Gescheitert an der Unfähigkeit, eine Mehrheit für das eigene Projekt zu begeistern. Das wäre einen Rücktritt wert. Cameron ist gegangen, pfeifend, wie man sich erinnert. Vielleicht ist Mays stures Durchhalten da vorerst die bessere Lösung. Ihre Annahme, sie könne Wähler aus der Arbeiterschaft und unter kleinen Angestellten dauerhaft von Labour entfremden, wenn sie nur den Brexit verbindet mit einer Politik der sozialen Marktwirtschaft, mit einer stärkeren Hinwendung zu den Nöten von Geringverdienern, war ein Fehlschluss. Diese Wählergruppen haben den Konservativen mehrheitlich nicht getraut. Sie sind bei Labour geblieben oder zurückgekehrt nach einem Ausflug zu den Populisten von Ukip.
Labour-Chef Jeremy Corbyn hat einen besseren Wahlkampf hingelegt. Gesiegt hat auch er nicht. Und seine Partei vertritt zwei Wählerschaften, die nicht unbedingt miteinander harmonieren. Da sind die jungen, bunten Truppen in London und den Universitätsstädten, die in Corbyn so etwas wie den britischen Bernie Sanders sehen. Es sind die „internationals“, die proeuropäischen Bessergebildeten. Und da sind die traditionellen Labour-Wähler, die den Brexit wollten, die national denken und die mit Corbyn eine Politik verbinden, die zurückkehrt in die Zeit vor Tony Blairs schickem Konstrukt namens New Labour. Es sind einfache Menschen, die Old Labour wollen. Auch denen hat Corbyn Hoffnung gemacht. Aber hätte er die Kluft in der Anhängerschaft als Premier überbrücken können?
Selbstverschuldete Krise
Innerhalb eines Jahres sind auf der Insel zwei politische Spiele schief gegangen. Mit dem „hung parliament“ schlittert das Land nun tiefer in seine selbstverschuldete Krise, die zu beheben May angetreten war. Die Gesellschaft ist gespalten: Alte geben sich nationaler Nostalgie hin, Junge spüren, dass ihre Zukunft noch weniger rosig aussehen könnte als sie schon ahnten. Der Brexit muss verhandelt werden, der Brexit schlägt aber auch schon auf die Wirtschaft durch mit höherer Inflation und ersten Wachstumsdämpfern. Nach 40 Jahren betont marktwirtschaftlicher Politik, nach einer Ära des „boom and bust“, bräuchte die britische Gesellschaft mehr Konsens. May weiß das und hätte es leisten müssen. Sie ist aber schon im ersten Akt von der Bühne gefallen.
Und welchen Brexit bekommen wir jetzt?
Was die neuen Verhältnisse im Unterhaus für die Brexit-Verhandlungen mit der EU bedeuten, lässt sich noch nicht absehen. Von einer „softeren“ Variante der künftigen Beziehungen (doch Mitglied im Binnenmarkt, etwa nach dem Norwegen-Modell) bis hin zu einem tatsächlich harten Brexit (ohne Handelsvertrag) scheint vieles möglich. May wollte, vielleicht nicht ganz unvernünftig angesichts der Meinungsverschiedenheiten in der britischen Gesellschaft, eine Lösung dazwischen erreichen, die auch der EU hätte passen können. Ob sie dazu noch die Stärke hat, wird sich zeigen. Im schlimmsten Fall reißt ein neu aufflammender Streit über den besten Austritt aus der EU die britische Gesellschaft und Politik demnächst noch tiefer in ihre Konflikte. Sie könnten es ja bleiben lassen. Aber dazu wird es nicht kommen.
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