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Sie wollen kämpfen - in diesem Fall gegen die Taliban.
© Reuters/Stringer

USA und Nato ziehen ab, die Taliban kommen zurück: Nichts ist gut in Afghanistan, gar nichts

Der Westen zieht seine Truppen aus Afghanistan ab. Verloren hat vor allem das afghanische Volk. Was ist die Lehre aus dem Debakel? Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

So liest sich die Nachricht auf der einen Seite der Welt: Der Präsident Afghanistans, Ashraf Ghani, kommt am Freitag ins Weiße Haus. Beim Gespräch mit Joe Biden geht es um den Abzug der noch rund 2500 US-Truppen und 7000 Nato-Soldaten. Und es geht um Geld und weitere Hilfen.

Biden wird Ghani die fortgesetzte Unterstützung Amerikas zusagen, für „das Volk der Afghanen, einschließlich der Frauen, Mädchen und Minderheiten“, wie es in einem Statement des Weißen Hauses heißt. Afghanistan dürfe nie wieder zu einem sicheren Hafen für Terroristen werden.

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So liest sich die Nachricht auf der anderen Seite der Welt: Die radikal-islamischen Taliban haben ihre Angriffe verstärkt und mehr als 50 der 370 Bezirke des Landes unter ihre Kontrolle gebracht. Die eroberten Regionen liegen rings um die Provinzhauptstädte. Offenbar warten die Taliban auf den vollständigen Abzug der westlichen Streitkräfte, um anschließend in die Städte einzumarschieren. An eine diplomatische Lösung des Konflikts glaubt kaum noch jemand. US-Regierung und Nato halten am endgültigen Termin des Abzugs fest – dem 11. September 2021.

Es hat nicht sollen sein. Verloren aber hat nicht nur der "Westen", sondern verloren hat vor allem das afghanische Volk. Wie konnte es dazu kommen?

Nato rief den Bündnisfall nach Artikel 5 ihrer Charta aus

Alles begann vor zwanzig Jahren, nach den verheerenden Terroranschlägen von 9/11. Amerika war erschüttert, traurig, wütend. Verübt worden waren die Anschläge von Al Qaida rund um Osama bin Laden. Die Terroristen hatten, unter dem Schutz der Taliban, ihr mörderisches Handwerk in Afghanistan gelernt.

Schnell kam eins zum anderen: Al Qaida muss zerschlagen, die Taliban müssen entmachtet werden. Es gab ein UN-Mandat, der Westen schloss sich zusammen, die Nato rief zum erstenmal in ihrer Geschichte den Bündnisfall nach Artikel 5 ihrer Charta aus.

Humanitär verpackt wurde die Mission durch das Ziel der Einführung von Demokratie und Frauenrechten, das „nation building“ sah den Aufbau von Justiz, Verwaltung, Bildung und Infrastruktur vor. Alles klang logisch, gut und richtig. Hatten ähnliche Aufbauwerke nach dem Zweiten Weltkrieg nicht auch in Japan und Deutschland funktioniert?

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Also wollte Deutschland nicht abseitsstehen. Bundeskanzler Gerhard Schröder versicherte US-Präsident George W. Bush seine „bedingungslose Solidarität“. Verteidigungsminister Peter Struck sagte, Deutschlands Sicherheit werde auch am Hindukusch verteidigt.

Im Bundestag formierte sich eine große Allianz – einschließlich der Mehrheit der SPD und etlichen Grünen sowie Union und FDP -, die den Einsatz der Bundeswehr absegnete, Jahr für Jahr. Im Kampf gegen den Terror schien der Afghanistankrieg, wie man heute wohl sagen würde, alternativlos zu sein.

Der Krieg kostete eine Billion Dollar

Die wenigen Skeptiker, wie Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt, die daran erinnerten, dass sich an Afghanistan schon Perser und Mongolen, Briten und Sowjets die Zähne ausgebissen hatten, wurden des Defätismus geziehen. Als die ehemalige EKD-Ratsvorsitzende Margot Käßmann am Abend des 1. Januar 2010 in ihrer Neujahrspredigt sagte, „nichts ist gut in Afghanistan“, empörte sich die gesamte deutsche Sicherheitsexperten-Fraktion.

Und jetzt? Der Krieg kostete eine Billion Dollar, knapp 50.000 afghanische Zivilisten kamen ums Leben, die Regierung in Kabul kontrolliert nicht einmal die Hälfte des Landes, vor allem die Opiumproduktion floriert, die Verhandlungen in Doha mit den Taliban sind in einer Sackgasse, Al Qaida hat sich in anderen Ländern neu organisiert und operiert zunehmend dezentral.

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Ein Debakel, ein Fiasko. Nie zuvor waren USA, Nato und der vereinte „Westen“ in einen Krieg gezogen – und dermaßen kläglich mit ihren Zielen gescheitert. Die von Neokonservativen geschürte Hoffnung, durch den Sturz despotischer Regime ließen sich Demokratie und Menschenrechte befördern, entpuppte sich als naiv.

Nichts ist gut in Afghanistan. Und nichts ist gut im Irak, in Libyen, in Ägypten. Der syrische Diktator hält sich mit Hilfe Russlands und des Iran an der Macht. In einer ganzen Weltregion wirken destruktive Kräfte.

Als Weltpolizist haben die USA ausgedient

Es fällt schwer, die richtigen Lehren daraus zu ziehen, zumal keiner der Beteiligten ein Interesse daran zu haben scheint. „Nation building“, Demokratieexport, Freiheitsrhetorik – all das steht künftig unter dem Vorbehalt, überambitioniert zu sein. „You break it, you own it“, lautet die alte Porzellanregel, „was du kaputt machst, musst du bezahlen.“

Daran hat Ex-Außenminister Colin Powell oft erinnert. Wer sich den Verlauf des Afghanistankrieges ins Gedächtnis ruft, versteht vielleicht, warum die Regierung von Barack Obama gezögert hat, militärisch in den Syrien-Konflikt einzugreifen. Und warum sie in Libyen lieber „von hinten“ führen wollte.

Mit dem Abzug der amerikanischen Truppen bis spätestens 11. September 2021 liegt Joe Biden auf der von Obama eingeleiteten und von Donald Trump weitergeführten Linie: Als Weltpolizist haben die USA ausgedient. Sie wollen ausgedient haben.

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