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Martin Schulz, MdB (SPD). Fotografiert in seinem Bundestagsbüro in Paul-Löbe-Haus in Berlin beim Interview für den Tagesspiegel am Sonntag.
© Mike Wolff/Tsp

Martin Schulz über das neue SPD-Duo: „Nicht aus der Regierung flüchten“

Wie geht es weiter mit der SPD nach dem Erfolg der Groko-Gegner Esken und Walter-Borjans? Ex-Parteichef Martin Schulz warnt vor der Opposition. Ein Interview.

Als Martin Schulz 2017 zum Spitzenkandidaten gekürt wurde, löste er eine Welle der Euphorie aus - und landete nur bei 20 Prozent. Vor der Wahl der neuen Parteispitze sprach sich der Ex-SPD-Chef für das Duo Olaf Scholz und Klara Geywitz aus - trotz seiner Rivalität mit dem Vizekanzler.

Die Basis hat gesprochen, die Groko-Kritiker Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken führen künftig die SPD. Ist das der Anfang vom Ende der großen Koalition?
Ich gratuliere den beiden zu ihrem Wahlsieg. Dies ist ein Auftrag, die Partei zu führen, aber auch ein Auftrag an die Partei, sie zu unterstützen. Mein Ratschlag ist, das Heil nicht in der Flucht aus der Regierung zu suchen, sondern in der Gestaltungskraft der SPD in der Regierung. Unser Ziel muss sein, so stark zu werden, dass die nächste Regierung von uns angeführt werden kann. Ich glaube, dass es für so eine Linie auf dem SPD-Parteitag eine Mehrheit gibt.

Kann Olaf Scholz nach dieser Niederlage Vizekanzler bleiben?
Olaf Scholz muss selbst bewerten, wie er im Lichte dieses Ergebnisses seine Rolle sieht. Da kann ich keine Ratschläge erteilen.

Haben Walter-Borjans oder Esken nun das Zugriffsrecht auf die Kanzlerkandidatur?
Die beiden Parteivorsitzenden werden ganz sicher ein Verfahren finden, um eine geeignete Person aufzustellen. Wer das am Ende sein soll, wird sich im Verlauf des Jahres 2020 zeigen. Das kann einer der Parteivorsitzenden sein. Die SPD hat viele gute Köpfe.

Die neue SPD-Doppelspitze übernimmt eine am Boden liegende Partei. Von einem 20-Prozent-Ergebnis im Bund, das Ihnen als SPD-Chef nach der Bundestagswahl 2017 zum Verhängnis wurde, kann die Sozialdemokratie heute nur träumen. Woran liegt das?
Die aktuelle Lage hat viele Ursachen. Das hängt auch mit einer fundamentalen Veränderung im Parteiensystem zusammen, und mit einer Welt, in der vieles in Bewegung ist.

Heißt das, die SPD kann im Grunde wenig gegen den Niedergang tun?
Wenn die SPD sich treu bleibt, kann sie jedem Zeitgeist trotzen. Sie darf ihren politischen Kern nur nicht dauernd selbst in Frage stellen.

Inwiefern geschieht das denn?
Wir müssen aufhören, öffentlich übereinander herzuziehen. Eine Partei, die für Respekt, Würde und Toleranz kämpft, sich aber nach innen intolerant, respektlos, würdelos verhält, verliert jede Glaubwürdigkeit.

Welche Rolle spielen persönliche Feindschaften innerhalb der SPD-Führung für die Misere?
Eine zu große, auch das kann nicht so bleiben. Sehen Sie, Olaf Scholz und ich haben beispielsweise eine sehr besondere Geschichte miteinander …

… Sie sehen in Scholz einen der Verantwortlichen für Ihren Sturz als SPD-Chef.
Ich habe das alles hinter mir gelassen. Wir sind in eine Situation gekommen, wo Befindlichkeiten keine Rolle mehr spielen dürfen und man persönliche Verletzungen abhaken muss. Es geht jetzt um die Existenz der Partei. Deshalb habe ich mich öffentlich für Olaf Scholz als künftigen SPD-Chef ausgesprochen. Manch politische Differenz bleibt sicher bestehen. Aber das darf uns nicht davon abhalten zum Wohle der Partei und unseres Landes dort wo es geht zusammenzuarbeiten.

Wegen Ihres Plädoyers für Olaf Scholz wurden sie aus der SPD prompt hart angegangen.
Ja, klar habe ich mir mit dieser Entscheidung nicht nur Freunde gemacht und manch einer war auch enttäuscht. Aber ich habe meine Beweggründe in einem langen Interview im „Spiegel“ dargelegt und auch klargemacht, dass ich nach wie vor zu meiner politischen Linie stehe. Aber Schritte aufeinander zuzumachen ist das, was die SPD braucht. Und nicht der aggressive Ton, den ich in den Kommentaren zu meiner Entscheidung erlebt habe.

Mit der Parteiführung gehen die Genossen traditionell besonders gnadenlos um. Nach Ihnen wurde Andrea Nahles aus dem Amt gemobbt …
Frau Nahles hat wie andere Vorsitzende vor ihr allem darunter gelitten, dass die SPD zu einer Drei-Botschaften-Partei geworden ist. Da gibt es die offizielle Linie, die ein Parteitag oder ein Vorstandsbeschluss festgelegt. Das ist die erste Botschaft. Sobald diese Entscheidung gefallen ist, meldet sich prompt ein Drittel der SPD lautstark mit der Botschaft zu Wort, die Beschlüsse gingen nicht weit genug. Worauf ein weiteres Drittel verkündet, alles gehe viel zu weit. Mit drei widersprüchlichen Botschaften und einer permanenten inneren Unzufriedenheit kann man aber niemanden überzeugen und erst recht keine Wahl gewinnen.

Die SPD an sich ist also nicht aus der Zeit gefallen, der Umgang der Sozialdemokraten untereinander ist dann das eigentliche Problem?
Es ist eines unserer Hauptprobleme. Nur wenn wir geschlossen auftreten, können wir unsere volle Stärke entwickeln. Die SPD ist eine Partei, die deshalb 156 Jahren existiert, weil sie eine Kernbotschaft hat, die immer aktuell bleibt: Verkürzt ist unser Programm seit jeher der Kampf für den Zusammenhalt in der Gesellschaft. Die Idee der Solidargemeinschaft, „Menschen für Menschen“, basiert auf der Achtung der individuellen Menschenwürde und dem gegenseitigen Respekt. Die SPD hat sich nie den Zeitgeistströmungen unterworfen, im Gegenteil. Es mag sein, dass wir nicht die hipsten sind. Wir haben auch keine blau-gefärbten Haare. Ich jedenfalls nicht. Aber ich habe einen Wertekanon, der mehr denn je wichtig ist für die Gesellschaft - und zu dem stehe ich. Wenn man den geschlossen vertritt, dann gewinnt man auch Vertrauen. In einer Zeit, in der die Gesellschaft auseinanderfällt, in der sich Vereinzelung und Hass breit machen, sind unsere Werte und unsere Programmatik wichtiger denn je.

In der Ära Schröder hat sich die SPD von einem neoliberalen Zeitgeist aber dazu verlocken lassen, Finanzmärkte zu deregulieren oder etwa im SPD-geführten Berlin massenhaft Wohnungen an Investoren zu verkaufen. Rührt der Vertrauensverlust in Ihre Partei nicht auch aus dieser Zeit?
„Privat-statt-Staat“ war doch die Parole der FDP und der CDU. Ich kenne jede Menge sozialdemokratische Städte, die sich massiv gewehrt und ihren Wohnungsbestand nicht verkauft haben. Im Übrigen: Als Gerhard Schröder 1998 Bundeskanzler wurde, litt dieses Land unter dem größten Reformstau, den es je hatte. 16 Jahre Kohl hatten zu Stagnation und letztendlich auch tiefer Spaltung zwischen Ost und Westdeutschland geführt. Dann wurden von Schröder viele gute Maßnahmen ergriffen zur Belebung des Arbeitsmarktes, einige davon sind bis heute umstritten. Aber was heute oft vergessen wird: die Investitionspolitik der damaligen Regierung, später in der Finanzkrise das Kurzarbeitergeld, haben geholfen, Millionen Arbeitsplätze zu erhalten. Die SPD steht für alles, aber nicht für einen neoliberalen Kurs.

Norbert Walter-Borjans hat Wahlkampf mit dem Versprechen gemacht, die SPD wieder aus der „neoliberalen Pampa“ herauszuführen…
Unter meiner Führung haben wir einen Koalitionsvertrag ausverhandelt, der zu 70 Prozent die Umsetzung meines Wahlprogramms war. Dieser Koalitionsvertrag führt keineswegs in eine neoliberale Pampa. Er ist stattdessen vollgestopft mit sozialdemokratischer Politik von der Stärkung der EU über die Kita-Gebührenfreiheit bis zur Grundrente.

Hat die große Koalition noch die Kraft für eine zupackende Politik bis zum Ende der Wahlperiode?
Diese Regierung ist jetzt seit 20 Monaten im Amt. Abgesehen von den sechs Monaten, die für die Krise zwischen CDU und CSU im Jahr 2018 draufgegangen sind, hat diese Regierung relativ erfolgreich gearbeitet.

Das sehen viele in der SPD ganz anders.
Wenn man ein Projekt, dem 66 Prozent der Mitglieder zugestimmt haben, jetzt schon wieder beendet, kann man als Partei kein Vertrauen gewinnen. Das Heilsversprechen, man könne aus der Opposition mehr erreichen als aus der Regierung, halte ich insbesondere angesichts des Vormarschs der Rechtsextremen in Europa am Vorabend der deutschen EU-Ratspräsidentschaft für fahrlässig.

Deshalb werbe ich intensiv dafür, dass die Koalition hält. Die Grundrente zeigt, dass wir sogar Politik durchsetzen können, die weit über den Koalitionsvertrag hinausgeht. Aus der Opposition heraus kann man solche Erfolge nicht durchsetzen, auch wenn mancher vielleicht davon träumt.

Auch in der Union wächst die Unzufriedenheit mit der Koalition. Trauen Sie Kanzlerin Merkel noch zu, das Bündnis zwei weitere Jahre zusammenzuhalten?
Ja, es gibt Fliehkräfte in der Union, und die CDU wird sie so richtig schmerzhaft zu spüren kommen, wenn die Ära Merkel beendet ist. Aber die Bundeskanzlerin hat diese Woche im Bundestag klarmacht, dass sie in der CDU nach wie vor das Sagen hat. Daran ändert auch Friedrich Merz nichts, und ganz sicher nicht Tilman Kuban.

Können Sie Ihren Genossen mit Überzeugung sagen, die große Koalition habe unter Merkels Führung eine gute Europapolitik gemacht?
Natürlich bin ich mit Merkels Europapolitik nicht zufrieden. Das große Problem besteht seit jeher in ihrer abwartenden Haltung. Frankreich hat Vorschläge gemacht, aber Berlin gibt keine Antwort. Das gilt vor allem für die dringend notwendige Reform der Eurozone.

Die 19 Euro-Staaten bilden eine ökonomische Schicksalsgemeinschaft, haben aber 19 Arbeitsmarktpolitiken, 19 Steuerpolitiken und 19 Investitionsstrategien. Ein einheitlicher Währungsraum kann auf Dauer nicht funktionieren, wenn man ihn in 19 Teile fragmentiert.

Deshalb brauchen wir Mindeststeuersätze und einen europäischen Finanzminister, der die durchsetzt. Um die Ungleichgewichte in der Eurozone auszugleichen, brauchen wir mehr Investitionen aus einem Eurozonenhaushalt, der diesen Namen auch verdient. Das steht alles im Koalitionsvertrag drin, das Europakapitel habe ich persönlich mit Angela Merkel ausverhandelt. Ich werde darauf drängen, dass unser Vertrag gerade in der deutschen Ratspräsidentschaft ab Mitte 2020 entschlossener umgesetzt wird.

Wie gefährlich ist die nicht zu übersehende Entfremdung zwischen Berlin und Paris für das europäische Projekt?
Die Differenzen zwischen Paris und Berlin, etwa wenn es um die Nato geht, sind Gift für die Europäische Union. Wenn die deutsch-französische Zusammenarbeit keine Renaissance erlebt, ist die EU ernsthaft gefährdet.

Sie kennen Emmanuel Macron sehr gut. Was treibt Frankreichs Präsidenten zu der Äußerung, die Nato sei hirntot? Und warum lehnt er EU-Beitrittsverhandlungen mit Nord-Mazedonien ab und wendet sich plötzlich Russland zu?
Stillstand in Europa kann sich Macron innenpolitisch nicht leisten. Er steht unter einem enormen Druck der Rechtsextremen Marine Le Pen, die in Frankreich die Europawahl gewonnen hat. Er muss permanent zeigen, dass er der starke Präsident ist, der die Interessen seines Landes wahrt. Auf seine Reformvorschläge kommt keine Antwort. Deshalb sucht er andere Wege. Das ist ein Grund für seine Alleingänge. Aber klar: Alleingänge sind falsch.

Wie sehen Sie Ihre eigene Rolle, was können Sie für Europa erreichen?
Ich konzentriere mich 2020 auf die deutsche Ratspräsidentschaft, die Vorbereitung und ihre Durchführung. Wenn wir Europa nicht zusammenschließen, zu einer ökonomischen Macht, die ihre wertegeleitete Demokratie durch ihre Wirtschaftskraft schützt, werden wir zum Spielball der Interessen der USA und Chinas.

Das Beispiel Huawei sollte uns eine Warnung sein. Wenn sich Europa nicht in gefährliche Abhängigkeiten begeben will, müssen europäische Telekommunikationskonzerne genauso groß und mächtig werden dürfen wir Huawei und ihre amerikanischen Konkurrenten. Dann darf aber auch der Zusammenschluss der Zusammenschluss europäischer Unternehmen zu großen Konzernen nicht länger verhindert werden. In dieser Hinsicht ist die Wettbewerbsphilosophie der Kommission kontraproduktiv.

Würden Sie als Außenminister angesichts der chinesischen Menschenrechtsverletzungen, etwa der Unterdrückung der Uiguren, einen härteren Ton anschlagen?
Ich glaube, dass der Außenminister die richtigen Worte findet. Ich kenne den chinesischen Staats- und Parteichef seit Jahrzehnten sehr gut und weiß deshalb: China ist heute eine Weltmacht, die sich keine Belehrungen erteilen lässt. Nicht von Deutschland, und auch nicht von der EU.

Wichtig ist, dass sich die EU nicht von China zersplittern lässt, sondern China geschlossen, selbstbewusst und dialogbereit entgegentritt. Die Chinesen sind eher bereit, mit den Europäern zu Vereinbarungen zu kommen als mit anderen. Im Umgang mit China kann es durchaus sinnvoll sein, sich noch einmal an den Ansatz von Willy Brandt im Umgang mit der Sowjetunion zu erinnern: Wandel durch Annäherung. Diktaturen fürchten nichts mehr als den Virus der Demokratie, das zeigt sich auch gerade in Hongkong.

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