Staaten in der Zwickmühle: China verlangt Gefolgschaft - politische Neutralität wird für kleinere Länder schwieriger
Der Trend zur Polarisierung in der Auseinandersetzung zwischen den USA und der Volksrepublik zwingt Staaten, sich auf eine Seite zu schlagen. Ein Gastbeitrag.
Global Challenges ist eine Marke der DvH Medien. Das neue Institut möchte die Diskussion geopolitischer Themen durch Veröffentlichungen anerkannter Experten vorantreiben. Heute ein Beitrag von Prof. Dr. Renate Schubert. Sie lehrt als Nationalökonomin an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich und am Singapore ETH-CentreSenior Advisor. Weitere Autoren und Autorinnen sind Prof. Dr. Ann-Kristin Achleitner, Sigmar Gabriel, Günther H. Oettinger, Prof. Jörg Rochol PhD , Jürgen Trittin und Prof. Dr. Bert Rürup.
Lange Zeit waren die Fronten klar: hier Amerika, dort Russland, und etliche Länder irgendwo dazwischen. Manche, wie Singapur oder die Schweiz, verstanden sich als „neutrale Staaten“, die in Konflikten sogar vermitteln konnten. Dann überholte China Russland wirtschaftlich und geopolitisch. Inzwischen hat der Machtkampf zwischen Washington und Peking so viel Fahrt aufgenommen, dass vor allem kleinere Länder kaum mehr wissen, wo ihnen der Kopf steht.
Die Frage stellt sich, ob es künftig überhaupt noch neutrale Länder geben kann oder ob diese angesichts verschärfter geopolitischer Rivalität eindeutig Farbe bekennen müssen – für die USA oder für China, dessen Kommunistische Partei an diesem Donnerstag ihre Gründung vor 100 Jahren feiert?
Der Druck, das eine oder andere Lager zu unterstützen, wächst. Daran hat der Übergang der US-Präsidentschaft von Donald Trump zu Joe Biden nichts geändert. Das zeigt die Kontroverse über den Bericht der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zu den Ursprüngen der Covid-19-Pandemie. Washington kritisiert den Ende April vorgelegten Bericht als einseitig und fordert weitere unabhängige Untersuchungen zu der Frage, ob das Virus nicht doch aus einem Labor in Wuhan stammen könne.
Deutschland verschanzte sich hinter einer EU-Stellungnahme
Die USA appellierten an ihre „Freunde“, den Protest zu unterstützen – zahlreiche Länder taten das auch, etwa Großbritannien, Kanada, Australien und Israel. Die Schweiz hingegen legte Wert darauf, sich unabhängig zu positionieren. Deutschland verschanzte sich hinter der EU-Stellungnahme, die den WHO-Bericht nur in moderatem Ton kritisierte. Trotz der EU-Position schlossen sich aber Dänemark, Tschechien und die baltischen Staaten dem US-Protest an – die Europäische Union zeigte sich wieder einmal uneins.
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Streitfälle wie den WHO-Bericht wird es künftig öfter geben. Um ihre wirtschaftlichen Interessen nicht zu gefährden, verhinderte die EU, diesmal selten einig, in der Abschlusserklärung des letzten G7-Gipfels deutliche Kritik an China – was Washington missfiel, Peking jedoch nicht davon abhielt, den Gipfel in Großbritannien als „Anti-China-Kreuzzug“ zu brandmarken.
Die zwei „Großen“ dürften künftig verstärkt Gefolgschaft einfordern. Stehen Staaten auf der „falschen“ Seite, werden immer häufiger Handelssanktionen die Folge sein. Für kleinere, außenhandelsorientierte Länder erwächst daraus ein Riesenproblem: Weniger Exporte in die USA oder nach China verschlechtern die Absatz- und Produktionschancen der eigenen Industrie, mit negativen Konsequenzen für Wirtschaftswachstum, Arbeitsmarkt und Steuereinnahmen.
Umgekehrt belasten teurere Importe aus den USA oder China die Kaufkraft in den kleineren Ländern. Doch nicht nur der Konsum wäre betroffen. Preissteigerungen bei Vorprodukten für die heimische Fertigung würden auch im Inland hergestellte Produkte verteuern und die Absatzchancen auf dem Weltmarkt schädigen.
Haben "Bekennerstaaten" weniger offene Volkswirtschaften?
Ist also anzunehmen, dass Länder, die sich klar zum einen oder anderen Lager bekennen, weniger offene Volkswirtschaften sind und daher von ihrem Bekenntnis nicht viel zu befürchten haben? Das mag auf den ersten Blick naheliegen, trifft aber nicht zu, wie ein Blick auf die Außenhandelsquote zeigt, den Anteil der Summe aus Exporten und Importen am Bruttoinlandsprodukt.
Hier weist die Schweiz, die sich nicht hinter die US-Erklärung zum WHO-Bericht gestellt hat, eine Außenhandelsquote von 130 Prozent aus, wobei die Exportquote rund 70 Prozent beträgt. Außenhandelsquoten liegen dann über 100 Prozent, wenn Länder mehr exportieren als im Land produziert wird und/oder mehr importieren, als verbraucht wird.
Auch Deutschland, beim WHO-Bericht ebenfalls nicht auf der Liste der „Freunde der USA“, hat eine Außenhandelsquote von 90 Prozent (Exporte rund 50 Prozent). Auf der anderen Seite aber sind Länder, die sich hinter die US-Erklärung gestellt haben, nicht weniger offen: Tschechien beispielsweise mit einer Außenhandelsquote von gut 150 Prozent (Exporte 85 Prozent) oder Dänemark mit einer Quote von gut 100 Prozent (Exporte knapp 60 Prozent).
Was also könnten die wahren Gründe sein?
Warum schlagen sich Länder auf die Seite der USA oder Chinas – beziehungsweise wollen dies lieber vermeiden und „neutral“ bleiben?
Gerade kleinere Länder betrachten ihre „Neutralität“ als Geschäftsmodell. So sind „Gute Dienste“ bei der Konfliktvermittlung ein traditionelles Asset der Schweiz. Die Alpenrepublik beheimatet nicht nur viele internationale Organisationen. Sie bietet auch oft und gerne runde Tische für verfeindete Parteien an, zuletzt beim Treffen von Joe Biden und Wladimir Putin in Genf.
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Das Neutralitätsprinzip – die Schweiz beteiligt sich zum Beispiel grundsätzlich nicht an militärischen Konflikten anderer Länder – ist sogar in der Schweizer Verfassung verankert.
Darüber hinaus wollen gerade die kleineren Länder auch ihre Unabhängigkeit bewahren. Umgeben von größeren Staaten war und ist es beispielsweise für die Schweiz wichtig, nicht einfach als Unterstützer eines der großen Länder und damit als eine Art „Anhängsel“ wahrgenommen zu werden.
Es gibt also durchaus gute Argumente, sich nicht auf die Seite eines der „Großen“ zu schlagen, wobei es letztlich oft um eine Kosten-Nutzen-Abwägung gehen dürfte: Sind die politischen und wirtschaftlichen Vorteile der „Neutralität“ auf mittlere und lange Sicht größer als die Nachteile von Sanktionen? Ist das nicht der Fall, stellt sich die Frage, auf wessen Seite man sich schlagen soll.
Auch hier ist es theoretisch einfach: Wähle diejenige Großmacht, die mittel- und langfristig die Nachteile der Sanktionen des anderen „Großen“ durch bevorzugte Behandlung (über)kompensieren wird. Doch so einfach das klingt, so schwierig ist es in die Praxis umzusetzen: Sowohl die zu erwartenden Sanktionen als auch die möglichen Vorteile des Umstands, dass man zu den „Freunden“ der USA oder Chinas gehört, sind mit erheblichen Unsicherheiten verbunden.
Auf der einen Seite erscheinen die künftigen ökonomischen Effekte schwer abschätzbar. Unsicher ist überdies, wie die Bevölkerung den trade-off zwischen ökonomischen Effekten einerseits (durch Sanktionen oder bevorzugte Behandlungen) und den generellen Prinzipien andererseits einschätzt, die die Politik Washingtons oder Pekings kennzeichnen.
Während sich Chinas Modell des gelenkten Kapitalismus durch ein hohes Maß an staatlicher Kontrolle und der Möglichkeit raschen Handelns auszeichnet, stehen die USA für deutlich mehr privatwirtschaftliche Initiative und eher beschränkte Eingriffsmöglichkeiten des Staats. Weiter geht es auch um Differenzen in Fragen von Menschenrechten, Meinungsfreiheit etc.
Hinzu kommt ein weiterer Aspekt: Die „Großen“ versuchen zunehmend, durch eigene Technologie-Normen kleinere Länder auf „Linie“ zu bringen. Nur unter erheblichen Effizienzverlusten dürften die „Kleinen“ künftig noch in der Lage sein, sich Optionen in beiden Normbereichen offen zu halten. Trotz möglicher Vorteile einer „neutralen“ Position steigt also der Druck in Richtung Polarisierung.
Renate Schubert
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