Was Europa braucht: Neuropa-eine Abhängigkeitserklärung
Nicht die Unabhängigkeit der einzelnen nationalstaatlich verfassten Mitgliedsländer macht Europa stark, es ist die Abhängigkeit voneinander. Bestrebungen nach regionaler Unabhängigkeit wie zuletzt in Katalonien oder der Lombardei sind Ausdruck eines neuen lokalen Nationalismus, der das gemeinsame Projekt bedroht. Ein Gastkommentar.
„Europa“ bedeutet aus dem Altgriechischen „die Frau mit der weiten Sicht“. Europa sind heute Ziel und Vision abhandengekommen und ist zum Negativthema geworden, an dem sich Zukunftszweifler und Weltpessimisten abarbeiten. Doch das neue Europa ist auf dem Weg: Es entsteht durch seine Krisen und nicht gegen die Nationalstaaten, sondern quer zu ihnen. Der Ort von NEUROPA sind die europäischen Städte und Regionen. Nicht als unabhängige, sondern als wechselseitig abhängige Einheiten. Die Akteure sind seine Bürger und Bürgermeister. NEUROPA ist weder ein Staat noch ein Klub von Separatisten, es ist ein Netzwerkprojekt des 21. Jahrhunderts.
Im Herbst hat Macron seine Vision von einer Neugründung Europas in einer Rede an der Sorbonne vorgelegt und sich dabei vor allem an Deutschland gewandt. Nicht mehr das Modell der Meritokratie, die ökonomische Wettbewerbsfähigkeit, soll das europäische Narrativ bestimmen. Macron will die EU nicht mehr aus der Vergangenheit, sondern aus der Zukunft begründen: Europa soll „souveräner, geeinter und demokratischer“ werden – unabhängiger nach außen und abhängiger nach innen.
Unterwerfung gegenüber der Angst
Macrons Projekt richtet sich gegen einen neuen Rechtspopulismus, Nationalismus und Separatismus in Europa. Ihr verbindendes Merkmal ist weniger die Wirtschaftskrise oder die wachsende soziale Ungleichheit, sondern die Ablehnung der liberalen Migrations- und Integrationspolitik und die Wut auf eine Politik „von oben“. Es ist ein Populismus, auf den uns die Geschichte nur schlecht vorbereitet hat. Seine Wurzeln sind kulturell und irrational. Gefährlicher als die Populisten und Separatisten selbst ist die Angst vor ihnen.
Michel Houellebecqs Roman „Unterwerfung“ beschreibt den Molotowcocktail aus Nostalgie, Angst und Fatalismus, den die neuen Populisten anzünden und vor dem ein angsterfülltes Europa zittert. Der Protagonist des Romans ist ein Literaturwissenschaftler, Mitte vierzig, der an der Sorbonne lehrt, allein lebt, sich von Fertiggerichten ernährt und gelegentlich mit seinen Studentinnen schläft. Er hat keine Freunde oder Feinde, ist Stammkunde bei Prostituierten und interessiert sich für nichts, außer für die französische Literatur des 19. Jahrhunderts. An ihm beschreibt Houellebecq, wie der toxische Mix aus Konformismus und politischer Korrektheit den Islamismus an die Macht bringt und Frankreich in ein aufgeklärtes Saudi-Arabien verwandelt. Der norwegische Schriftsteller Karl Ove Knausgård schrieb in der „New York Times“ über den Roman: Betrachte man nur die mitgeteilten Fakten, entstehe der Eindruck, „dass wir es hier mit Einsamkeit, Lieblosigkeit, Sinnlosigkeit ... und der Unfähigkeit zu tun haben, Gefühle zu entwickeln oder Nähe zu anderen herzustellen.“
Der Roman handelt von einem Europa, das keinen Widerstandswillen mehr hat, keine Politiker, die für es kämpfen, und keinen Ort, an den es flüchten könnte. Während die jüdische Geliebte des Protagonisten mit ihren Eltern nach Israel auswandert, gibt es für ihn selbst keinen Zufluchtsort. Europa wird zur Dystopie.
Moralische Panik
Der bulgarische Politikwissenschaftler Ivan Krăstev beschreibt in einem aktuellen Essay „Europadämmerung“ die Ursachen und Folgen einer anhaltenden europäischen Desintegration. Galten offene Grenzen 1989 noch als Zeichen von Freiheit und Wohlstand, sind sie heute zum Symbol der Unsicherheit mutiert. Was 1989 als demokratische Revolution begann, hat sich heute in eine demografische Gegenrevolution verwandelt. Nach Berechnungen des Internationalen Währungsfonds (IWF) werden Mittel-, Ost- und Südeuropa in den nächsten Jahren fast 10 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts durch Abwanderung und niedrige Geburtenraten verlieren.
Eine moralische Panik breitet sich aus: „Die Aussicht auf eine Zukunft, in der die Grenzen der Europäischen Union ständig von Flüchtlingen oder Migranten gestürmt werden, lässt das Vertrauen der Europäer in ihr politisches System erodieren“ (Krăstev). Hinzu tritt die Angst vor einer von Robotern getriebenen Transformation der Arbeitswelt: „Im technologischen Dystopia (...) wird es für die Menschen keine Arbeit mehr geben.“ Der neu-alte Populismus verspricht den Menschen ein Zurück in die „gute alte Zeit“, in der Migranten noch Gastarbeiter hießen und Maschinen ihnen nicht gefährlich wurden.
Der Mangel an Sinn, Alternativen und Zukunftsoptimismus ist die zentrale Ursache der europäischen Tragödie. Demokratie braucht Wahlmöglichkeiten, Souveränität braucht Bedeutung, und Globalisierung braucht Legitimation. Der Widerspruch der real existierenden Demokratie in Europa ist, dass die Bürger zwar freier sind, sich aber machtloser fühlen. Profiteure der neuen Spaltung zwischen den politischen und wirtschaftlichen Eliten und den Bürgern in Europa sind die Populisten. Sie versprechen ihren Wählern Identität und Intimität, Gefühl und Zugehörigkeit.
Wo das Gespenst des Untergangs wächst, wächst oft auch das Rettende. Verzweiflung und Hoffnung liegen oft nah beieinander. Schockiert vom Sieg Donald Trumps und von der Brexit-Entscheidung hat Frankreich bislang als erstes Mitgliedsland der EU eine eindeutige Reaktion gezeigt. Macron ist mit einem Programm des Zukunftsoptimismus angetreten und hat die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen klar gewonnen. Seine „République en marche!“ hat er erst im letzten Jahr nach dem Vorbild einer Graswurzelbewegung gegründet. Macron hat dem neuen Populismus und Nationalismus die Stirn geboten und der Angst, die seine Gegner von rechts schürten, die Idee eines neuen Wir entgegengesetzt.
Ein Zukunftsprogramm für Europa: Mehr Union plus mehr Region
In Zeiten großer Krisen erzeugt nicht zu viel Veränderung Unsicherheit, sondern das Festhalten an der bisherigen Politik. Die Menschen wollen nicht „kein Europa“, sondern ein verändertes. Priorität sollte die Versöhnung zwischen den Mitgliedsländern einnehmen. Die Neugründung Europas setzt mit Macron auf eine neue Balance von Souveränität, Demokratie und Subsidiarität. Europa muss in Zukunft größer und zugleich kleiner werden. „Größer“ bei den globalen und „kleiner“ bei den lokalen Fragen. Das Europa der Zukunft ist kein Staat im rechtlichen oder zentralistischen Sinn, sondern ein zugleich supranationales und föderales Gebilde.
„Souveräner und geeinter“ muss Europa bei der Bekämpfung der globalen Herausforderungen werden: Migration, Armut, Terror, Klima und Digitalisierung. Europa wird größer und weiter denken müssen, wenn sich die USA aus dem Kontinent zurückziehen und Mächte wie China und Indien global stärker werden. „Souverän“ führt, wer auf eine Politik der Versöhnung und des Ausgleichs setzt statt auf eine Politik der Alleingänge und Nötigung. Die EU muss den nächsten Schritt gehen. Die Währungsunion ist ohne Fiskal- und Sozialunion unvollständig. Da nicht alle Mitgliedsländer über die gleiche Wirtschaftskraft verfügen, sollte eine kleine Gruppe als Avantgarde beginnen wie dies bereits bei der Freizügigkeit (Schengen) und bei der Währungsunion (Euro) der Fall war. Angesichts der neuen globalen Sicherheitslage gehört auch die Verteidigungs- und Energieunion auf die Agenda.
Die EU muss „demokratischer“ werden. Ein Ausweg aus dem viel beklagten Demokratie-Defizit wäre eine europäische Bürger-Union. Die Europäer wählen in Zukunft das Europäische Parlament nicht nur auf nationaler Ebene, sondern auch europaweit. Die erste Stimme geben die Bürger auf nationaler Ebene für nationale Parteien, die zweite Stimme für eine europäische Liste ab. Mit der zweiten Stimme werden die Spitzenkandidaten für die Präsidentschaft der Europäischen Kommission gewählt. Die Souveränitätsrechte der nationalen Parlamente würden nicht eingeschränkt, sondern ergänzt. Hinzukommen muss eine Ergänzung von unten durch die Stärkung der Regionen, Städte und Kommunen.
„Subsidiär“ muss die europäische Antwort auf die Globalisierung lauten. In den Regionen, Städten und Gemeinden vor Ort entscheidet sich die Zukunft der Demokratie. Bürgermeister und Regionalpolitiker sind die Träger einer europäischen Bewegung für Inklusion, Umweltschutz und neue Mobilität. Die Welt hätte einen besseren Klimaschutz und intelligentere Mobilitätsformen, wenn Bürgermeister sie regieren würden. Die Antwort auf den globalen Kampf um die besten Ideen und Köpfe ist ein europäisches Netzwerk an Schul-, Städte- und Hochschulpartnerschaften.
Anfangen sollte die Neugründung Europas mit der Jugend. Die jungen Europäer sind die besten Botschafter von NEUROPA. Ein gemeinsames Gefühl der Zugehörigkeit und Identität ist die stärkste Waffe gegen Zukunftspessimismus und Populismus. Drei Vorschläge: Jeder Europäer sollte in seiner Schulzeit mindestens ein halbes Jahr im europäischen Ausland gelebt haben. Zum 18. Geburtstag bekommt jeder EU-Bürger einen Interrail-Pass. Jede junge Frau und jeder junge Mann leistet vor seinem 25. Lebensjahr einen flexiblen Zivil- oder Militärdienst in einem europäischen Mitgliedsland.
Für ein solches Zukunftsprogramm braucht Europa ein neues Selbstverständnis: Führungsmacht nach außen und Friedensmacht nach innen – Imperium und Heimat gleichermaßen.
Europe first! Eine europäische Abhängigkeitserklärung
Für eine solche Neugründung braucht Europa keine Unabhängigkeitserklärung („Declaration of Independence“), sondern eine Erklärung der wechselseitigen Abhängigkeit („Declaration of Interdependence“). Nicht die Unabhängigkeit der einzelnen nationalstaatlich verfassten Mitgliedsländer macht Europa stark, es ist die Abhängigkeit voneinander. Bestrebungen nach regionaler Unabhängigkeit wie zuletzt in Katalonien oder der Lombardei sind Ausdruck eines neuen lokalen Nationalismus. Aber nicht der Nationalismus hat Europa stark und innovativ gemacht, sondern eine intelligente Balance aus Autonomie und Abhängigkeit. Die autonome Republik Südtirol ist der Best Case im NEUROPA von morgen.
Der Europäische Traum: Freiheit und Sicherheit
Die europäische Abhängigkeitserklärung steht in der Tradition der Aufklärung. Ähnlich wie einst die Europäer nach Amerika übersiedelten und dort ihre Unabhängigkeit von Europa erklärten, sollte Europa sich seine wechselseitige Abhängigkeit eingestehen und sie feierlich erklären. Schon früh, im Jahr 2004, hat Jeremy Rifkin den langsamen Tod des Amerikanischen und das Entstehen eines „Europäischen Traums“ prognostiziert. Der Europäische Traum definiert Freiheit und Sicherheit positiv. „Frei sein“ bedeutet, Beziehungen zu anderen aufzubauen und zu pflegen. Je mehr Gemeinschaften den einzelnen Mitgliedern offenstehen, desto mehr Möglichkeiten haben sie, ein erfülltes und sinnvolles Leben zu führen. Mit den Beziehungen kommt ein Gefühl von Heimat und Geborgenheit, ein Sinn für das Symbolische – und damit Sicherheit.
Befreit von der Sehnsucht nach der geschlossenen Gesellschaft der Vergangenheit und von der Angst vor der eigenen Mündigkeit steht NEUROPA für einen gemeinsamen Aufbruch in eine vernetzte Zukunft. „Aufklärung reloaded“: Europa kann für eine zweite Renaissance stehen, wenn es seine Chancen nutzt. Demokratie ist eine gewaltige politische Innovation. Sie erst ermöglicht die Widerstands- und Anpassungsfähigkeit, die notwendig ist, um aus Krisen gestärkt hervorzugehen. Wie kein anderes Modell steht Europa für langfristigen Frieden, Gerechtigkeit und Humanität.
Das europäische Modell des dienenden Führens und der wechselseitigen Abhängigkeit kann zum Vorbild für andere Staaten und Zusammenschlüsse werden. Eine neue, zukunftsfähige Weltordnung entsteht. Europa emanzipiert sich und wird zum Hoffnungsträger für eine gerechtere Welt. Das alte Europa ist tot. Es lebe NEUROPA!
Dr. Daniel Dettling leitet das Berliner Büro des Zukunftsinstituts.
Dieser Text ist ein gekürzter Auszug aus dem „Zukunftsreport 2018“: Das Jahrbuch für gesellschaftliche Trends und Business-Innovationen erscheint im Dezember 2017 im Zukunftsinstitut. Weitere Infos unter www.zukunftsinstitut.de
Daniel Dettling