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Der Mann hat eine Vision: Emmanuel Macron will Frankreich wieder mit sich selbst versöhnen.
© Philippe Wojazer/Reuters

Frankreich und Deutschland: Macron übernimmt Merkels Führungsrolle in Europa

Jahrelang gab Deutschland in Europa den Ton an, Frankreich folgte treu. Das ändert sich gerade. Präsident Macron plant schon für die Zeit nach Angela Merkel.

Wenn Emmanuel Macron spricht, dann hat man oft den Eindruck, als stünde er nicht hinter einem Rednerpult, sondern auf einer Theaterbühne. Seine Sätze sind nicht einfach dahingesagt. Macron setzt Pausen, lässt seine Worte nachhallen. Sein Gestus ist manchmal dramatisch, aber immer eindringlich.

In der kommenden Woche wird Macron 40, er ist bislang der jüngste Präsident in der französischen Geschichte. Manche halten ihn für Europas neue Führungsfigur.

In jedem Fall wird seine Rolle als Präsident in Frankreich kaum in Frage gestellt. Als das Land am vergangenen Wochenende Abschied von der Rock-Legende Johnny Hallyday nahm, ergriff Macron vor der Pariser Kirche La Madeleine das Wort. Der Staatschef forderte die Anwesenden zum Applaus für den verstorbenen Sänger auf, „damit der Geist des Rock’n Roll und des Blues lebendig bleibt“. Macron richtete seinen live im Fernsehen übertragenen Appell an alle Franzosen, „egal, wer ihr seid“. Sprach’s, klatschte selber in die Hände und hörte den tausendfachen Beifall.

Man darf vermuten, dass viele Landsleute Macrons diesen Auftritt ihres Staatschefs eher wahrgenommen haben als das umfangreiche politische Programm, das der Präsident in den vergangenen Wochen absolviert hat. Hallyday war ein sehr volksnaher Sänger, der seine Fans überall hatte: in Paris, aber vor allem in der von der Politik manchmal vergessenen Provinz. Die Rock-Ikone wirkte wie eine Klammer zwischen den Erfolgreichen aus den urbanen Milieus und den weniger Privilegierten. Und in gewisser Weise ist dies auch Macrons Mission: Frankreich wieder mit sich selbst zu versöhnen – und nicht dem rechtsextremen Front National zu überlassen. Der Sänger sei für viele wie „ein Freund, ein Bruder“ gewesen, sagte Macron in der Trauerrede. Seine Fans hätten ihn mit einer Energie unterstützt, „die ein Volk ausmacht“.

Pathos gehört zum Programm

So viel Pathos in einer Trauerrede – in Frankreich ist es normal, wenn ein Präsident mit Verve für seine Ideen wirbt. Ein hoher französischer Regierungsbeamter sagt es so: „In Frankreich erwarten wir, dass unser Präsident einige Schlüsselbegriffe nennt: Initiative, Bewegung, Dynamik. In Deutschland werden von den Spitzenpolitikern andere Begriffe erwartet: Stabilität, Reflexion, ein Schritt-für-Schritt-Ansatz.“

Natürlich zielt die Bemerkung des Regierungsbeamten auf Angela Merkel, die im 13. Jahr ihrer Kanzlerschaft derzeit zusehen muss, wie sie eine Regierung bildet. Mit Verwunderung nimmt man in Paris zur Kenntnis, dass die stabilen Verhältnisse, die man sonst von Deutschland kennt, durch den Ausgang der Bundestagswahl ins Wanken geraten sind.

Macron wünscht sich, dass die Regierungsbildung in Berlin in seinem Sinne ausgeht – und greift dabei notfalls auch ins Geschehen ein. Im Sommer hatte er, der erst einige Monate im Amt war, ein milliardenschweres Budget für die Euro-Zone gefordert. Als die FDP das ambitionierte Projekt bei den Jamaika-Sondierungen zu blockieren drohte, schickte Macron seinen Finanzminister Bruno Le Maire nach Berlin. Le Maire bat inständig darum, das Vorhaben des Euro-Zonen-Budgets nicht von vornherein zu beerdigen.

Macron setzt auf eine große Koalition

Als dann die Sondierungen in Berlin endgültig scheiterten, war es Merkel, die Macron anrief. Nach dem Gespräch mit der Kanzlerin griff der Amtsinhaber im Elysée-Palast zum Telefonhörer, um mit SPD-Chef Martin Schulz zu sprechen. Macron hofft darauf, dass es nach dem Scheitern von Jamaika zu einer großen Koalition kommt. Schulz soll bei einer Neuauflage des schwarz-roten Bündnisses seinen Traum eines Budgets für die Euro-Zone – ein sichtbares Zeichen der Solidarität unter den Staaten – am Leben erhalten.

Frankreichs Erwartungen an ein Euro-Zonen-Budget wurden heruntergedimmt

Zwar hat man in Frankreich angesichts des Widerstands die Erwartungen heruntergedimmt, dass sich das umstrittene Projekt kurzfristig verwirklichen lässt. Aber zunächst einmal muss Macron abwarten, ob sich die Dinge im Nachbarland überhaupt in seinem Sinne entwickeln.

Die politische Hängepartie in Berlin macht deutlich, dass sich die Rollen zwischen Deutschland und Frankreich in ganz ungewöhnlicher Weise vertauscht haben. Jahrelang gab Merkel den Ton in Europa an. Frankreichs Präsidenten, ob sie nun Nicolas Sarkozy oder François Hollande hießen, wurden in der Europapolitik in erster Linie als Gefolgsleute der Kanzlerin wahrgenommen. Das ändert sich gerade.

Merkel wollte "Resultate" sehen

Es ist sieben Monate her, dass Macron am Abend seiner Wahl zum Präsidenten unter den Klängen von Beethovens „Ode an die Freude“ durch den Innenhof des Louvre schritt. Unmittelbar nach seiner Amtseinführung stattete er Merkel in Berlin einen Besuch ab. Zwar sprach auch Merkel bei dieser Begegnung davon, dass jedem Anfang laut dem bekannten Hermann-Hesse-Zitat „ein Zauber“ innewohne. Allerdings schob sie gleich die Aufforderung an Macron hinterher, dass dieser Zauber nur dann anhalten werde, „wenn auch Resultate kommen“. Merkels Botschaft: Frankreich müsse zunächst innenpolitische Reformen bewerkstelligen, bevor Paris in der Europapolitik Forderungen stellen könne.

In Frankreich kennt man die deutschen Vorbehalte nur zu genau. „Über viele Jahre hinweg haben wir die Deutschen enttäuscht“, heißt es in Pariser Regierungskreisen. Tatsächlich machten Macrons Vorgänger Hollande und Sarkozy immer wieder große Reformankündigungen, aber am Ende tat sich kaum etwas. Insbesondere löste in Berlin die Tatsache Missvergnügen aus, dass Frankreich Jahr für Jahr gegen die Defizitregeln des Euro-Stabilitätspakts verstieß.

Frankreichs Präsident hat geliefert

Sieben Monate nach seinem Amtsantritt kann sich Macron zugute halten, dass er die Erwartungen der Kanzlerin nicht enttäuscht hat. Er legte ein Reformtempo vor, das den Regierungsapparat bis an die Belastungsgrenze brachte. Mitarbeiter stöhnten über lange Arbeitstage. Eine Beraterin aus dem Finanzressort, das sich die akribische Einhaltung der Euro-Schuldengrenze zur Aufgabe gemacht hat, verließ drei Wochen nach der Regierungsübernahme das Ministerium mit einem Burnout.

Trotz anfänglicher Schwierigkeiten gelang es Macron, seine innenpolitische Reform-Agenda durchzuziehen. Ende November billigte die Nationalversammlung seine umstrittene Erneuerung des Arbeitsrechts, die einen Beitrag zur Senkung der Arbeitslosigkeit leisten soll. Der Protest der Gewerkschaften gegen die Reform hielt sich in Grenzen. Zudem profitiert Macron davon, dass seine Partei „La République en Marche“ kaum ernsthafte Konkurrenz befürchten muss: Die bisherigen Regierungsparteien, die Sozialisten und die konservativen Republikaner, sortieren sich nach ihrer verheerenden Wahlniederlage immer noch.

Neue Aufbruchsstimmung im Nachbarland

Noch ist es zu früh, um eine Bilanz von Macrons Reformwerk zu ziehen. Auch wenn die „Macronie“, wie die Anhängerschaft des Präsidenten in Frankreich leicht spöttisch genannt wird, seine Erfolge etwas schönfärberisch darstellt, so steht doch fest: Der junge Staatschef hat nicht nur in seinem eigenen Land, sondern in der gesamten EU für neuen Aufbruchsgeist gesorgt. Macrons Wagnis, mit einem Bekenntnis zur EU Wahlkampf zu machen, hat sich auch schon in anderer Hinsicht gelohnt: Wenn sich sein Wahlsieg im Mai zum ersten Mal jährt, wird er in Aachen mit dem europäischen Karlspreis ausgezeichnet.

Während das politische System in Frankreich in den vergangenen Monaten einen beispiellosen Umbruch erlebte, herrschte in Deutschland im vergangenen Sommer wahlkampfbedingter Stillstand. Als dann die Bundestagswahl ihren bekannten Ausgang nahm, war in der konservativen Zeitung „Le Figaro“ von einem „bitteren Sieg“ für Angela Merkel die Rede. Seither häufen sich die kritischen Kommentare mit Blick auf Berlin. Nach dem Brüsseler Alleingang des CSU-Landwirtschaftsministers Christian Schmidt bei der Zulassung des umstrittenen Unkrautvernichters Glyphosat stellte der Moderator der Morgensendung des Radiosenders „France Inter“ mit Blick auf die Kanzlerin die Frage: „Ist da ein Pilot im Flugzeug?“ Dass die 63-jährige Merkel, anders als der 39-jährige Macron, ihren Zenit schon überschritten hat, wird in Paris genau registriert. Merkel sei „politisch angegriffen“, war in dieser Woche in einem Kommentar der Zeitung „Le Monde“ zu lesen.

Macron füllt das Vakuum aus

Den Platz, den Merkel in diesen Wochen zwangsläufig auf der internationalen Bühne frei lassen muss, versucht nun Macron auszufüllen. Am Wochenende empfing er den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu im Elysée-Palast und forderte ihn auf, den Siedlungsbau in den Palästinensergebieten vorläufig zu stoppen. Am Dienstag präsentierte er sich als Gastgeber des Pariser Klimagipfels mit 50 Staats- und Regierungschefs sowie rund 4000 weiteren Teilnehmern. An diesem Mittwoch lädt er die Staatschefs der fünf Sahel-Länder Mauretanien, Mali, Burkina Faso, Niger und Tschad ein, um die Bekämpfung des islamistischen Terrors in der Region zu koordinieren.

Für das "Time"-Magazin gilt der Franzose bereits als Europas neue Führungsfigur

Der internationale Parforce-Ritt des französischen Präsidenten hat bereits dazu geführt, dass das US-Magazin „Time“ den französischen Präsidenten auf den Titel hob und ihn zum „next leader of Europe“ erklärte – zu Europas neuem Steuermann. Doch ganz so einfach liegen die Dinge nun auch wieder nicht. Macron weiß genau, dass er seine europapolitischen Vorstellungen ohne die deutsche Kanzlerin nicht umsetzen kann. Dies dürfte auch beim zweitägigen EU-Gipfel deutlich werden, der am Donnerstag beginnt.

Weil er auf Merkel in der Europapolitik angewiesen ist, zeigte sich Macron auch im Interview mit dem „Time“-Magazin ganz bescheiden. Als ihn die Journalisten fragten, ob er die Führungsrolle in Europa übernehmen wolle, erwiderte er: „Die klassische französische Antwort würde darin bestehen, ,Ja’ zu sagen. Aber ich denke, das wäre ein Fehler.“ Er wolle lieber „einer der Führungsleute“ sein, stellte der Staatschef richtig. Er erklärte, dass er sich als Teil einer „neuen Führungsgeneration“ sehe, „die völlig davon überzeugt ist, dass unsere Zukunft in Europa liegt“.

Planung für das Jahr 2022

Macron plant bereits für das Jahr 2022. Zu diesem Zeitpunkt will er als Präsident wiedergewählt werden. Als Sprungbrett soll ihm die Europawahl in eineinhalb Jahren dienen. Wenn bis dahin einige seiner ehrgeizigen Ideen zur Stärkung der Euro-Zone mit Merkels Hilfe umgesetzt sind, so sein Kalkül, dann werden die Wähler dies auch seiner Partei „La République en Marche“ gutschreiben.

Nach gegenwärtigem Stand stehen die Chancen, dass dieser Plan aufgeht, nicht schlecht.

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