Urteil im Fall Chemnitz: Neuneinhalb Jahre Haft für tödliche Messerattacke
Die Gewalttat hatte Folgen für die gesamte Republik, nun gibt es ein Urteil: Alaa S. bekommt eine Gefängnisstrafe. Doch die Lage in der Stadt bleibt gespannt.
Fast auf den Tag genau ein Jahr nach dem Tod des Deutsch-Kubaners Daniel Hillig in Chemnitz hat das Landgericht der Stadt den mutmaßlichen Täter Alaa S. (24) zu neuneinhalb Jahren Haft verurteilt. Die Erste Kammer unter Vorsitz von Richterin Simone Herberger hält den syrischen Flüchtling des Totschlags und der gefährlichen Körperverletzung für schuldig.
Damit endet der Prozess zu einem Verbrechen, dessen Folgen die Republik schockten. Schon am Tag der Tat, dem 26. August 2018, rotteten sich in Chemnitz Rechtsextremisten zusammen und attackierten Migranten. Es folgten bis in den September hinein Demonstrationen mit Tausenden Teilnehmern, AfD-Funktionäre marschierten gemeinsam mit Neonazis, Hooligans und Normalbürgern durch die Stadt. Es kam immer wieder zu Ausschreitungen, Rechtsextremisten attackierten Polizisten, Migranten, Journalisten.
Alaa S. soll in der Nacht zum 26. August gemeinsam mit einem danach untergetauchten Iraker den 35-jährigen Daniel Hillig nahe dem Chemnitzer Stadtfest attackiert haben. Hillig starb kurz nach der Tat im Krankenhaus. Zwei Begleiter des Deutsch-Kubaners erlitten Verletzungen. Alaa S. beteuert, er habe Hillig nicht erstochen, doch das Gericht glaubte ihm nicht.
Im Prozess verwickelten sich allerdings mehrere Zeugen in Widersprüche. Die Staatsanwaltschaft forderte dennoch zehn Jahre Haft für Alaa S., die Anwälte der Nebenklage wollten sogar elf Jahre. Die Verteidigung plädierte hingegen auf Freispruch. Das Urteil ist nicht rechtskräftig, Alaa S. kann Revision einlegen.
Ausschreitungen nach der Tat
Die tödlichen Messerstiche in Chemnitz hatten Folgen wie sonst kaum eine Gewalttat in der Geschichte der Bundesrepublik. Rassistische Demonstrationen und Ausschreitungen, Neonazis bildeten die Terrorgruppe "Revolution Chemnitz" und planten Anschläge in Berlin, der damalige oberste Verfassungsschützer der Republik, Hans-Georg Maaßen, verursachte mit einem Interview eine Krise in der Großen Koalition, die fast zum Ende der Bundesregierung geführt hätte.
Angesichts der vielen immer noch schwelenden Emotionen, vor allem in der rechten Szene in Chemnitz, schauten die sächsischen Sicherheitsbehörden am Donnerstag etwas angespannt auf den Hochsicherheitssaal des Oberlandesgerichts Dresden. Dorthin war das das Landgericht Chemnitz zum Schutz vor Krawallen ausgewichen. Für den Fall eines Freispruchs wurden ein Aufflammen der rechten Proteste in Chemnitz befürchtet.
„Es kann alles passieren“
Was die Szene nun nach dem Urteil anstellt, ist offen. Im Internet behaupten rechte User, das Urteil sei zu lasch. Linke hingegen vermuten, die Richter hätten dem Druck der Öffentlichkeit nachgegeben. Sicherheitskreise sagten, die Lage in Chemnitz habe sich in den vergangenen Monaten etwas beruhigt, „aber es kann alles passieren“. Die brachialen Aufmärsche von Rechtsextremisten und sympathisierenden Bürger im Spätsommer 2018 stecken den Behörden noch in den Knochen. Im März hatten zudem rechtsextreme Fußballfans die Stadt erneut in Verruf gebracht. Nach dem Tod des Neonazis Thomas Haller entrollten seine Anhänger im Stadion des Chemnitzer FC vor dem Beginn eines Spiels ein großes Transparent, auf dem in altdeutschen Buchstaben stand "Ruhe in Frieden, Tommy". Der Verein ließ die Geste zu und geriet dann in heftige Kritik. Der Präsident des sächsischen Verfassungsschutzes, Gordian Meyer-Plath, sagte dem Tagesspiegel, die Hooligangruppen "Kaotic Chemnitz" und "NS-Boys" hätten offenbar Einfluss auf Vereinsaktivitäten. Im Fanumfeld und im Verein seien zumindest eine "mangelnde Sensibilität und Konsequenz" festzustellen.
Für diesen Sonntag hat die rechtsextreme Gruppierung „Pro Chemnitz“ eine Kundgebung in der Stadt angekündigt. Das Motto mit Blick auf den Jahrestag des Todes von Daniel Hillig lautet „Was muss noch passieren? Auf die Straße jetzt!“ Bis zu tausend Teilnehmer seien zu erwarten, schätzen Sicherheitsexperten. Pro Chemnitz war bei den krawalligen Aufläufen vor einem Jahr die treibende Kraft.
Nahezu täglich rechtsextreme Demonstrationen
Heute ist „Chemnitz“ ein Symbolwort für die rechtsextreme Gefahr in Deutschland, ähnlich wie „Rostock“, „Hoyerswerda“, „Solingen“. Schon am 26. August organisierte die rechte Hooligantruppe „Kaotic“ in Chemnitz die ersten Proteste. Dann ging es Schlag auf Schlag, bis in den September hinein wurde nahezu täglich in Chemnitz demonstriert, die Polizei war dem Furor der wütenden Massen kaum gewachsen.
Die Neonaziszene konnte „großflächig anschlussfähige Protestveranstaltungen mit bundesweiter rechtsextremistischer Beteiligung durchführen“, stellte der sächsischen Verfassungsschutz im Jahresbericht 2018 fest. Der Szene in Chemnitz war es gelungen, über die sozialen Medien Rechtsextremisten aus der ganzen Republik anzufeuern, in die sächsische Stadt zu kommen.
Und nicht nur das. Auch die AfD machte mit. Björn Höcke, der Brandenburger Landeschef Andreas Kalbitz und weitere Funktionäre liefen am 1. September gemeinsam mit Neonazis, Hooligans, Kampfsportlern, Identitären und Pegida-Anhängern bei einem „Trauermarsch“ durch die Stadt. Rechte Schläger attackierten Journalisten, Migranten, linke Nazi-Gegner. Allein bei der Staatsanwaltschaft Chemnitz haben sich 85 Verfahren im Zusammenhang mit den Demonstrationen seit dem 30. August angesammelt. Die Fälle aus der Zeit vom 26. bis zum 29. August bearbeitet die Generalstaatsanwaltschaft Dresden. Bei der Staatsanwaltschaft Chemnitz hieß es am Donnerstag, es können noch „eine ganze Masse“ Verfahren von der Polizei kommen.