Südafrika: Nelson Mandela – ein Leben für die Menschlichkeit
Vor 100 Jahren wurde Nelson Mandela geboren. Er ist eine globale Ikone, sein Vermächtnis fordert Südafrika heraus. Doch nicht alle werden seinem Erbe gerecht.
Nelson Rolihlahla Mandela, liebevoll Madiba genannt, führte ein wunderbares Leben im Dienste der Menschlichkeit. Er kam aus Südafrika, aber er war eine globale Ikone, die der Welt diente. Er mag vor fünf Jahren verstorben sein, aber sein Vermächtnis wird bis heute gelebt und auch in Zukunft relevant bleiben.
Nach seinem Tod entbrannte ein intellektueller Kampf um die Deutungshoheit über Madibas Erbe und seine Werte für kommende Generationen, während die weltweiten und nationalen Medien beständig seine Botschaft der Versöhnung in die Welt hinausposaunten. Natürlich war dies wichtig – sogar essentiell –, um ihn als politische Person zu begreifen, doch Madiba stand für mehr. Manche Zeitungen priesen seinen Pragmatismus, doch auch der war nur eine seiner Eigenschaften. Er stand für das Gegenteil von Rassismus und sprach sich mit Nachdruck für Demokratie und politische Teilnahme aus. Er kämpfte für wirtschaftliche Teilhabe und verabscheute Armut und Ungleichheit. Und er glaubte wahrhaftig daran, dass, bevor man benachteiligte Menschen bitten konnte, Opfer zu bringen, reiche Menschen das Gleiche tun sollten. Wie sonst kann man erklären, dass er eine Gehaltskürzung in Kauf nahm, als er südafrikanischer Präsident wurde?
Mandela kann man ehren, indem man Rechtsstaatlichkeit wahrt
Um Madiba zu ehren wie es ihm gebührt, muss man ihn respektieren, darf ihn aber nicht überhöhen. Seine komplette politische Botschaft und all seine Ideen müssen betrachtet werden, nicht nur jene Aspekte, die wohlfeil sind. Politiker in aller Welt, die Madiba ehren wollen, können das nur tun, indem sie die Rechtsstaatlichkeit wahren und Gesetze achten, sei es bei der eigenen Bevölkerung, sei es gegenüber Ausländern.
Madiba wandte sich energisch gegen jegliche Form von Fremdenfeindlichkeit und Diskriminierung. Ihn zu ehren bedeutet, genau dies zu respektieren. Mehr noch, es verlangt, dem Druck jener standzuhalten, die Migranten abweisen, die Fremdenfeindlichkeit anstacheln und Gewalt in Kauf nehmen, die Kinder von ihren Familien trennen, sogar wenn das Versprechen lautet: „Make America great again.“
Viele führende Persönlichkeiten aus Südafrika, die behaupten, Madiba geehrt zu haben, sollten sich daran erinnern, dass er Korruption verabscheute. Er verlangte Pflichterfüllung im öffentlichen Dienst und forderte ökonomische Teilhabe. Diese Leitlinien müssen im Kampf um ein neues Südafrika wieder an erste Stelle rücken. Aber das würde heißen, dass gegen die Korrupten vorgegangen werden muss, selbst wenn sie sich im Dunstkreis politischer Macht befinden. Es bedeutet, den Kampf gegen Ungleichheit und Armut aufzunehmen. Die Diensterfüllung gegenüber den Bürgern muss Priorität bekommen, selbst wenn in der Folge gegen fehlgeleitete oder faule Mitglieder der Partei vorgegangen werden muss.
Was das angeht, sind Südafrikas Führer und Madibas Kameraden im African National Congress (ANC) den Herausforderungen noch nicht gewachsen. Es dauerte Jahre, bis Jacob Zuma abberufen wurde und für seine Rolle in der „state capture“ (systematische politische Korruption) geradestehen musste. Er muss noch immer zur Rechenschaft gezogen werden, was die Vorwürfe der Korruption im Waffenhandel betrifft. Geprüft werden müssen auch die Umstände der Renovierung seines luxuriösen Privathauses Nkandla, in die 20 Millionen Rand Steuergelder geflossen sein sollen.
Südafrikas Nationaler Entwicklungsplan (National Development Plan – NDP) ist darauf fokussiert, die Armut im Land zu bekämpfen, doch trotz dieses wortreich gesetzten Ziels schweigt man weiter über die Ungleichheit. Der Plan baut auf Wirtschaftswachstum und steigende Beschäftigungszahlen. Dadurch, so die Überzeugung, würde die Armut im Land zurückgehen. Auch wenn der Ansatz richtig ist, wird die Ungleichheit nicht verschwinden.
Die Armen leiden unter dem Versagen der Behörden am meisten
In den vergangenen 20 Jahren ist die Armut in China, Indien und vielen anderen Ländern erheblich gesunken, und doch wächst die Ungleichheit in diesen Gesellschaften weiter. Die Ursache: Die Spitzen der Gesellschaft besitzen Vermögen – Bonds, Aktien, Immobilien –, jene im Fundament der Pyramide nicht. Wenn die Wirtschaft kontinuierlich wächst, steigen die Zahl der Arbeitsplätze und die Löhne der Beschäftigten an der Basis. Doch das Vermögen der Reichen wächst viel schneller – so dass auch die Ungleichheit wächst, obwohl die Armut insgesamt zurückgeht.
Der NDP schweigt dazu, obwohl seine Ausschussmitglieder das Problem kennen. Aber der politische Preis, hier zu handeln, wäre zu hoch. Dabei werden die tatsächlichen Kosten für das Versagen der Behörden von den Armen getragen – exakt der Anhängerschaft also, die der ANC beteuert zu repräsentieren. Die Täter hingegen – Parteikader, die der ANC auf die Posten gehievt hat – werden von der Organisation geschützt. Sie sollen mit den Versäumnissen in den Behörden nicht in Verbindung gebracht werden und öffentlich am Pranger stehen. Mit diesem Verhalten verraten der ANC und seine Anführer Madibas Vermächtnis.
Führungskräfte in der Privatwirtschaft sind ebenso daran beteiligt, die Botschaft dieser globalen Ikone zu entstellen. Sie berufen sich oft auf Madibas Pragmatismus – und schweigen zu seiner Zusicherung der ökonomischen Teilhabe. Sie betonen, dass er sich von der Praxis der Verstaatlichung abgewendet hat, und dass er Präsident war, während ein konservatives makro-ökonomisches Programm – die Growth, Employment and Redistribution Strategy (GEAR) – eingeführt wurde. Jedoch übersehen sie geflissentlich, dass Madiba dieses Programm als Kompromiss ansah, der aus einer politischen Notwendigkeit geboren wurde.
Der Bereicherung der Reichen Grenzen setzen
Madiba bemängelte auch, wie GEAR eingesetzt wurde und war erschüttert über den Anstieg der wirtschaftlichen Ungleichheit. Die daraus resultierende politische und soziale Polarisierung verurteilte er.
Um Madiba wahrhaftig in Ehren zu halten, müssen Führungskräfte in der Privatwirtschaft alle Facetten seiner Botschaft akzeptieren. Das bedeutet nicht, dass man die Marktwirtschaft abschaffen muss. Aber wie in Europa und Asien heißt es, dass der Markt reguliert werden muss. Genauso müssen individuelle Investmententscheidungen auch im Hinblick auf die möglicherweise daraus resultierenden sozialen Kosten getroffen werden. Wie Thomas Piketty in seiner Studie „Kapital im 21. Jahrhundert“ richtig anmerkt, wird eine steigende Ungleichheit teilweise durch die extreme Bereicherung von Wirtschaftsführern vorangetrieben. Deswegen sei es nötig, dieser Bereicherung Grenzen aufzuzeigen, wenn man sich wirkungsvoll um das Problem der Ungleichheit kümmern wolle.
Eine ähnliche Verpflichtung muss auch von den Gewerkschaftsführern und Aktivisten der Zivilgesellschaft geleistet werden. Zu oft sprechen sie von Madibas Grundwerten – Demokratie, Gleichheit und ökonomische Teilhabe – und doch ignorieren sie seine Lösungsansätze für diese Probleme.
Madiba war ein beeindruckender politischer Vordenker, der die Relevanz des Pragmatismus im Kampf für mehr Gleichheit verstand. Ihm war klar: Die Welt, in der wir leben, ist wie sie ist und nicht wie wir sie gerne hätten. Er erkannte die tatsächlichen Gegebenheiten von Macht – und die Notwendigkeit, auf jene, die Macht besaßen, einzugehen und manchmal Kompromisse mit ihnen zu schließen. Aber er glaubte, dass solche Kompromisse schließlich dazu führen müssten, Initiativen und Maßnahmen zu starten zur Schaffung einer besseren Welt.
Debatten werden oft in Extremen geführt - das ist nicht im Sinne Mandelas
Deswegen ziemt es sich nicht für Gewerkschaftsführer und progressive zivilgesellschaftliche Aktivisten, Debatten in politischen Extremen zu führen. Sie müssen erkennen, dass Pragmatismus und fortschrittliche Ergebnisse sich nicht gegenseitig ausschließen. Das bedeutet aber, dass diese Führer und Aktivisten verstehen, wie man Kompromisse eingeht, welche legitimen Absprachen dies betrifft und wie man sie dazu nutzen kann, den Fortschritt weiter voranzutreiben.
Diese Botschaft von politischem Pragmatismus wird von fortschrittlichen Gewerkschaftsführern und Aktivisten, die von sich behaupten, in Madibas Fußstapfen zu treten, zu oft ignoriert. Debatten werden in Südafrika oft in Extremen geführt: Kapitalismus gegen Sozialismus, Verstaatlichung gegen unregulierte Märkte – als wären diese Alternativen die einzigen, die zur Verfügung stehen. Progressive Aktivisten und Anführer durchdenken die strukturellen Reformen sehr selten, die nötig sind, um eine Brücke über den politischen Graben zu schlagen. Den Zustand fasste Achille Mbembe in seiner Beschreibung von Südafrika als „gefangen zwischen einer unlösbaren Gegenwart und einer unabänderlichen Vergangenheit; zwischen Dingen, die nicht mehr und noch nicht sind“ bildlich zusammen.
Madibas Vermächtnis ist komplex, ein Vermächtnis, das nicht verunglimpft werden sollte. Wenn wir den ehemaligen Präsidenten Südafrikas ehren wollen, fern aller Plattitüden, dann müssen wir uns seiner gesamten politischen Botschaft öffnen. Wenn wir das tun, wird ihm das erlauben, uns vom Himmel aus mit seinem großzügigen Lächeln zu beschenken. Aber es wird uns auch die Chance geben, die Gesellschaft aufzubauen, deren Vision in der Freedom Charta enthalten ist, dem Programm, an dem Madiba, damals noch ein junger Mann, in den 1950er Jahren mitgearbeitet hat.
Das ist der einzig richtige Weg, Madiba zu gedenken. Und es ist das Mindeste, was wir gemeinsam für Nelson Rolihlahla Mandela tun können, diesen Sohn Südafrikas, diese Ikone der Welt.
Adam Habib ist Professor für Politische Geographie an der Witwatersrand University in Johannesburg.
Aus dem Englischen von Annika Brockschmidt
Adam Habib