Koalition sucht Entscheidung bei Wahlrechtsreform: Müssen alle Bundestagskandidaten neu aufgestellt werden?
Die Union will einige Wahlkreise streichen. Ein Gutachten für die SPD hält das nur für möglich, wenn in allen Wahlkreisen die Bewerber neu aufgestellt werden.
Wenn sich am Dienstag der Koalitionsausschuss von CDU, CSU und SPD trifft, dann geht es auch um die sich seit Jahren hinschleppende Wahlrechtsreform. Im Mittelpunkt steht eine Frage: Ist ein Neuzuschnitt von Wahlkreisen knapp ein Jahr vor der nächsten Bundestagswahl noch möglich – und unter welchen Bedingungen? Es ist der Hauptdissens zwischen Union und Sozialdemokraten. Während die SPD der Meinung ist, dass das Streichen von Wahlkreisen, um so das weitere Aufblähen der Sitzzahl des Parlaments einzudämmen, praktisch nicht mehr möglich ist, sieht der Vorschlag der Union vor, 19 der 299 Wahlkreise abzuschaffen. Welche konkret es sein sollen, ist allerdings unklar.
Die Zeit drängt jedenfalls, die Koalitionsspitzen müssen entscheiden. Für alle Fälle macht auch Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) nochmals Druck und forderte einen Kompromiss aller Fraktionen. „Es geht hier um die Handlungsfähigkeit des Parlaments und damit um das Vertrauen der Bürger in unsere parlamentarische Demokratie“, sagte er der Deutschen Presse-Agentur.
"Bedeutsame Einschränkungen"
Aber die Lage ist eben nicht ganz einfach. Die Wahlrechtlerin Sophie Schönberger von der Universität Düsseldorf betont nun in einem Gutachten für die SPD-Bundestagsfraktion, dass ein Neuzuschnitt der Wahlkreise noch vor der Wahl zwar verfassungsrechtlich nicht ausgeschlossen sei, aber „bedeutsamen Einschränkungen“ unterliege. Schönberger schreibt in dem Papier, das dem Tagesspiegel vorliegt, dass ansonsten die Gebote der Wahlrechtsgleichheit und der Freiheit der Wahl berührt sein könnten.
Ihr Hauptpunkt: Würden jetzt noch Wahlkreise gestrichen, dann müsste für alle verbliebenen Wahlkreise – also 280 nach dem Unions-Vorschlag – gesetzlich zur Pflicht gemacht werden, dass auch schon gewählte Direktkandidaten aller Parteien neu aufgestellt werden müssten.
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Zudem dürfe sich der Neuzuschnitt „allein an politisch neutralen, wahlbezogenen Kriterien orientieren“ – und nicht etwa an besonderen Vorstellungen einer Fraktion. Sonst bestehe die Gefahr, „dass die jeweilige Parlamentsmehrheit sich statt von gemeinwohlbezogenen Erwägungen vom Ziel des eigenen Machterhalts leiten lässt“, heißt es in Schönbergers Gutachten. „Je kleiner die Anzahl der zu streichenden Wahlkreise ist und je später die Wahlkreisneueinteilung erfolgt, desto größer ist dabei die Gefahr der staatlichen Einflussnahme auf den Kandidatenauswahlprozess und damit die Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der Freiheit der Wahl.“
Verfahren haben formell im März begonnen
Das Aufstellungsverfahren zur nächsten Bundestagswahl im September 2021 läuft formell schon seit Ende März. In nicht wenigen Wahlkreisen haben Parteien die Kandidatenaufstellung sogar schon abgeschlossen.
In der Unionsfraktion geht man davon aus, dass jeder gestrichene Wahlkreis Änderungen in zwei bis drei weiteren umliegenden Wahlkreisen nach sich zieht. Laut Ansgar Heveling, Wahlrechtsexperte der Fraktion, ist ein größerer Domino-Effekt nicht zu erwarten – er rechnet damit, dass nicht mehr als 50 Wahlkreise „angefasst“ werden müssten. Unter Wahlexperten wird das allerdings bezweifelt. Doch selbst wenn es so wäre: Nach Schönbergers Gutachten wäre es nicht zulässig, das Aufstellungsverfahren der Kandidaten nur in diesen „angefassten“ Wahlkreisen neu zu starten, weil sonst dort andere Bedingungen der Kandidatenaufstellung gelten würden als in den unveränderten Wahlkreisen.
Verwicklungen drohen
Und noch ein Punkt ist kritisch: Würde das Aufstellungsverfahren nicht überall neu durchgeführt, könnten schon aufgestellte Kandidaten in gestrichenen Wahlkreisen Einspruch erheben. Eine Neuaufstellung in allen Wahlkreisen würde bedeuten, dass vielerorts das Verfahren ein zweites Mal beginnen müsste. Oder aber die Verfahren müssten unterbrochen oder verschoben werden.
Als kritischer Punkt gilt auch, dass in „angefassten“ Wahlkreisen sich unter Umständen die Kräfteverhältnisse innerhalb der lokalen Parteien durch hinzugekommene Ortsverbände verschieben und damit Aufstellungsverfahren unter ganz anderen Bedingungen wiederholt werden müssten. Zudem ändern sich die Fristen für das Beibringen von Unterstützerunterschriften, die kleine Parteien, die nicht im Bundestag vertreten sind, vorlegen müssen.
Im Bundestag wird über eine Wahlrechtsreform debattiert, um die weitere Aufblähung der Sitzzahl über die jetzigen 709 hinaus zu vermeiden. Die Normalgröße des Parlaments liegt bei 598 Mandaten, aber Überhänge und Ausgleichssitze führen zu einer Vermehrung. Ohne Reform könnten es bei der nächsten Wahl deutlich mehr als 709 Abgeordnete werden.
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