Wahlrechtsreform im Bundestag: Quadratur mit Kreisen
Beim Wahlrecht wollen sich jetzt die Koalitionsspitzen verständigen. Das wird schwierig. Der Plan der Union hält möglicherweise nicht, was er verspricht.
Im Bundestag hat es nicht geklappt. Daher sollen jetzt die Spitzen der Koalition ran, also die Runde der Parteichefs und Fraktionsvorsitzenden samt der Kanzlerin. In gut einer Woche, am 25. August, steht die Wahlrechtsreform auf der Tagesordnung des Koalitionsausschusses.
Ein langer Anlauf zu einer Reform in einer kleinen Fraktionsrunde unter Leitung von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) endete vor gut einem Jahr ohne Ergebnis. Dann legten im vorigen Herbst erst FDP, Linke und Grüne einen gemeinsamen Gesetzentwurf vor, die AfD zog mit einem eigenen Vorschlag nach.
Aber Union und SPD gingen darauf nicht ein. Im Frühjahr stellten die Sozialdemokraten einen Plan vor, der mittlerweile auch als Gesetzentwurf ausformuliert ist. Kurz vor der Sommerpause kam auch ein Vorschlag aus der Unions-Fraktion, der aber nicht ausgearbeitet ist.
Wahlkreise streichen, Direktmandate kappen?
Nimmt man alle Vorschläge zusammen, geht es im Kern vor allem um diese Frage: Soll die Zahl der Wahlkreise verringert werden, um eine größere Aufblähung des Bundestags zu verhindern, oder kappt man Direktmandate. 709 Mandate hat der Bundestag jetzt, bei einer Normalgröße von 598 Sitzen. Nicht auszuschließen ist, dass er nach der Wahl im kommenden Jahr noch deutlich mehr Mitglieder haben wird.
In der Koalition neigt die Union der ersten Lösung zu, die SPD der zweiten. Die Unions-Fraktionsführung hat die Verringerung von 299 auf 280 Wahlkreise ins Gespräch gebracht, als Teil einer Lösung, zu der auch gehört, bis zu sieben Überhänge ohne Ausgleich zu lassen – also jene Mandate über den Proporz hinaus, die entstehen, wen eine Partei mehr Direktmandat in den Wahlkreisen gewinnt, als ihr nach dem Zweitstimmenanteil zustehen.
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Letzteres lehnt die SPD ab, weil es das Parteienverhältnis verzerren kann. Und um Wahlkreise abzuschaffen, hält der Parlamentarische Geschäftsführer der Fraktion, Carsten Schneider, die Zeit für zu weit fortgeschritten. Immerhin haben die Aufstellungsverfahren für Kandidaten für die Wahl im September 2021 schon begonnen. Die SPD schlägt daher ein Modell vor, das Überhänge so lange ausgleicht, bis 690 Sitze erreicht sind. Überhänge, die es dann noch gibt, werden gekappt – indem Direktmandate mit den schwächsten Ergebnissen nicht zugeteilt werden.
Union stellt fast alle Wahlkreissieger
Zur Einschätzung all dessen muss man wissen, dass nach den aktuellen Umfragen im August 286 der 299 Direktmandate an die Union gehen würden. Je vier hätten SPD, Grüne und Linke, eines die AfD. Das kann natürlich in einem Jahr anders aussehen, aber es wird wohl wieder sehr viele Überhänge geben, die Landeslisten ziehen eher nicht. Aber ob Wahlkreisverringerung oder Kappung als Lösung – in der Unionsfraktion stehen sie jetzt alle vor der Frage: Wen von uns trifft es?
Das Streichen von 19 Wahlkreisen hätte durchaus eine dämpfende Wirkung. Am meisten natürlich dann, wenn 19 sichere Wahlkreise der Union dran glauben müssten, denn CDU und CSU produzieren ja die Überhänge. Aber eine Liste der Streichkandidaten hat die Union bisher nicht vorgelegt. Man weiß nur, wie sie sich auf die Länder verteilen: Nordrhein-Westfalen vier, Bayern, Baden-Württemberg, Niedersachsen und Hessen je zwei, Schleswig-Holstein, Brandenburg, Berlin, Sachsen-Anhalt, Sachsen, Rheinland-Pfalz und Saarland je einer. Mecklenburg-Vorpommern, Hamburg, Bremen und Thüringen kämen ungeschoren davon.
Welche Wahlkreise sollen weg?
Der Union könnte nun daran gelegen sein, Wahlkreise abzuschaffen, in denen der aktuelle Direktmandatsinhaber ausscheidet – der Stress in der Fraktion wäre dann geringer. Allerdings gibt das Wahlgesetz klare Regeln vor. Von daher sind vor allem Wahlkreise mit unterdurchschnittlicher Bevölkerungszahl ideale Streichkandidaten, die von mehreren anderen, nicht zu großen Wahlkreisen umgeben sind, um sie ohne größere Folgewirkungen aufteilen zu können.
In Hessen könnte das der Wahlkreis 177 (Wetterau I) sein, wo der CDU-Abgeordnete Oswin Veith schon im Februar aus dem Bundestag ausgeschieden ist. In Rheinland-Pfalz böte sich der Wahlkreis 200 (Mosel-Rhein- Hunsrück) an, und dort hört auch der CDU-MdB Peter Bleser mit Ablauf der Wahlperiode auf. In Brandenburg hat im südlichen Wahlkreis 65 Michael Stübgen das Mandat niedergelegt, als er für die CDU ins Landeskabinett einrückte – aber in diesem Land ist nicht ganz so leicht zu erkennen, wie ein begrenzter Wahlkreisneuzuschnitt aussehen würde.
Oberschwaben und Südbaden
Mit einiger Wahrscheinlichkeit lassen sich in Bayern und Baden-Württemberg die Regionen identifizieren, in denen je ein Wahlkreis wegfallen könnte. Einerseits sind das Oberfranken und Niederbayern, andererseits Oberschwaben und Südbaden. Am Bodensee hört im Wahlkreis 293 der CDU-Parlamentarier Lothar Riebsamen auf.
Im Regierungsbezirk Freiburg sieht der Wahlkreis Schwarzwald-Baar wie der nächstliegende Streichkandidat aus, dort tritt Thorsten Frei wieder an, der Unions-Fraktionsvize, der als Zukunftstalent gilt. In der Nachbarschaft westlich davon hört dagegen Peter Weiß auf, im Wahlkreis 283 (Emmendingen-Lahr), und östlich, im Wahlkreis 285 (Rottweil-Tuttlingen), tritt Volker Kauder nicht mehr an.
Weitere Wahlkreise, die aktuell CDU-Direktmandate haben und wegfallen könnten, sind in Berlin Charlottenburg-Wilmersdorf (also dort, wo aktuell auch der Streit zwischen Michael Müller und Sawsan Chebli um die SPD-Kandidatur schwelt), im Saarland der Wahlkreis 298 von Nadine Schön, in Schleswig-Holstein der Wahlkreis 6 von Melanie Bernstein, in Sachsen der Wahlkreis 163 von Wirtschafts-Staatssekretär Marco Wanderwitz dem Ostbeauftragten der Bundesregierung.
Auch SPD-Wahlkreise im Visier?
Allerdings geht es beim Streichen der 19 Wahlkreise keineswegs nur um solche, in denen derzeit Unions-Politiker das Direktmandat halten. In einigen Fällen könnte es welche treffen, in denen Sozialdemokratzen direkt gewählte Abgeordnete sind. Darunter ist in Niedersachsen der Wahlkreis 35 von SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil. Zudem könnten in Hessen aus drei nördlichen Wahlkreisen, alle bisher gewonnen von Sozialdemokraten, zwei werden. Am ehesten träfe es wohl den Wahlkreis 170 (Schwalm-Eder), wo Edgar Franke das Direktmandat hält.
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Am deutlichsten wäre der Einschnitt aus SPD-Sicht allerdings im Ruhrgebiet und direkt drumherum. Dort sind viele Wahlkreise eher klein, haben also weniger Bevölkerung als im Schnitt. Gut möglich, dass alle vier Wahlkreise, die in NRW gestrichen werden müssten, dort liegen.
Ruhrgebiet könnte Neuzuschnitt erleben
Natürlich sind konkrete Annahmen spekulativ. Aber Duisburg II (Mahmut Özdemir), Essen II (Dirk Heidenblut), Gelsenkirchen (Markus Töns), Ennepe-Ruhr (Ralf Kapschak), Herne-Bochum (Michelle Müntefering) und Recklinghausen (Frank Schwabe) könnten durchaus zu den vier gehören, die nach dem Unions-Vorschlag wegfielen.
Damit aber stellt sich die Frage, ob das Modell der Union mit seinen 280 Wahlkreisen überhaupt leisten kann, was es zu versprechen scheint. Denn wenn es in Nordrhein-Westfalen, Hessen und Niedersachsen 2021 CDU-Überhänge geben sollte, könnte das Streichen von Wahlkreisen, in denen die SPD auch bei einem schwächeren Gesamtergebnis Chancen auf das Direktmandat hat, kontraproduktiv sein. Die Dämpfungswirkung der Wahlkreisreduzierung wäre dann um einiges geringer.