zum Hauptinhalt
Gregor Gysi
© Thilo Rückeis

Gregor Gysi rügt Sahra Wagenknecht: "Mit solchen Slogans kommen wir nicht weiter"

Die Linke und die Flüchtlinge: Gregor Gysi mahnt im Interview, seine Partei müsse den "gravierenden Unterschied" zu den Forderungen der AfD aufrechterhalten.

Herr Gysi, ist „Gutmensch“ das richtige „Unwort des Jahres“ 2015?

Nein, die Entscheidung ist missverständlich. Viele ehrenamtliche Helferinnen und Helfer haben sich um die Flüchtlinge gekümmert und müssen den Eindruck haben, dass auch sie damit gemeint sind. Sie leisten unentgeltlich eine wichtige und sehr aufwendige Arbeit. Ich verstehe zwar, wer mit dem Unwort „Gutmensch“ gemeint ist. Aber zu viele andere müssen sich dadurch negativ bewertet fühlen.

Wie verhält es sich mit dem Begriff „Obergrenze“?

„Obergrenze“ wäre mir viel lieber als „Unwort des Jahres“. Stellen Sie sich mal vor: Wir beschließen eine Obergrenze. Und der erste danach, der ein Asylverfahren in Deutschland haben will, ist jemand, dem aus politischen Gründen in seinem Heimatland die Todesstrafe droht. Und dann sagen wir dem: „Tut uns leid. Sie haben falsch in der Reihe gestanden, sie hätten einen Platz vorher kommen müssen.“ Das ist doch absurd.

Die Debatte wird auch in der Linkspartei geführt. Fraktionschefin Sahra Wagenknecht sagt, es würde Deutschland zerreißen, sollte es 2016 erneut eine Million neue Flüchtlinge geben. Teilen Sie diese Einschätzung?

Nein, aber natürlich ist die Gesellschaft schon heute gespalten. Aber die Frage ist ja, wozu sich die Linke bekennt. Wir müssen uns dafür engagieren, dass alle Flüchtlinge anständig behandelt und integriert werden. Zur Integration gehört allerdings auch, ihnen die Werte und Grundlagen unserer Gesellschaft zu erläutern, weil man immer diese Werte und Grundregeln akzeptieren muss, wenn man in ein Land flüchtet.

Was meinen Sie konkret?

Wenn ich mit Flüchtlingen spreche, sage ich denen immer, unser Grundgesetz verlangt zwei Dinge: erstens die Gleichstellung der Geschlechter und zweitens die Gleichstellung von gleichgeschlechtlich Liebenden. Und wenn ein Flüchtling aus einem Land kommt, in dem Frauen unterdrückt werden und auf Homosexualität die Todesstrafe steht, muss er lernen zu respektieren, dass das bei uns gänzlich anders ist. Das ist das, was ich von den Flüchtlingen erwarte. Und von uns erwarte ich, dass wir Deutschunterricht anbieten, Qualifikationen nutzen. Und soweit es Straftaten betrifft, um das auch gleich zu sagen: Die müssen immer konsequent verfolgt werden, egal ob sie von Ausländern oder von Deutschen begangen werden. Wir dürfen auch nicht so tun, als ob wir Probleme der sexuellen Belästigung und Gewalt gegen Frauen in der Ehe, in anderen Beziehungen und am Arbeitsplatz nicht ständig hätten – lange vor den Vorfällen am Kölner Hauptbahnhof.

Viele Flüchtlinge kommen nach Deutschland, weil die wirtschaftliche Not in ihrem Land so groß ist. Was sagen Sie denen?

Durch Zäune und Mauern, wie Herr Orban denkt, kriegt man die Probleme mit Sicherheit nicht gelöst. Man kriegt sie nur gelöst, wenn wir ernsthaft beginnen, die Fluchtursachen zu bekämpfen. Also: Die erste Ursache ist der Krieg. Deutschland ist aber der drittgrößte Waffenexporteur und verdient an jedem Krieg mit. Wieso liefern wir immer noch Waffen an Saudi-Arabien und Katar? Das ist doch überhaupt nicht zu fassen.

Und zweitens?

Ich sage immer, jährlich sterben 70 Millionen Menschen, davon 18 Millionen an Hunger. Hunger ist die häufigste Todesursache, und das, obwohl wir weltweit eine Landwirtschaft haben, die die Menschheit zweimal ernähren könnte. Ist es wirklich richtig, dass die EU weiterhin subventionierte Lebensmittel nach Afrika verkauft? Die Butter aus der EU ist in Marokko billiger als die Butter aus Marokko. So wird verhindert, dass in Afrika eine die Bevölkerung ausreichend versorgende Landwirtschaft entstehen kann. Solche Dinge müssen sich ändern. Wir müssen Not und Elend beseitigen. Eine Million Flüchtlinge würden wir verkraften, das ist nicht das Problem. Aber wenn wir jetzt nicht die Fluchtursachen angehen, dann kann eine Situation in Europa und auch in Deutschland entstehen, die unbeherrschbar ist. Auch die Linke muss sich ernsthaft Gedanken machen um die Rechtsentwicklung in Deutschland und in Europa.

„Wer Gastrecht missbraucht, der hat Gastrecht dann eben auch verwirkt“, dieses Zitat von Sahra Wagenknecht hat heftige Irritationen in der Linken ausgelöst. Bei Ihnen auch?

Das ist auf jeden Fall falsch formuliert. Es geht nicht um Gast-, sondern um Völkerrecht. Mit solchen Slogans kommen wir nicht weiter. Gastrecht verletzen hieße ja: Für das kleinste strafrechtliche Delikt muss jemand rausgeschmissen, also doppelt bestraft werden. Das geht nicht. Was man durchsetzen muss, ist die rechtsstaatliche konsequente Ahndung von Straftaten, egal von wem sie begangen werden. Dann fühlen sich die Menschen wieder sicherer, vor allem auch die Frauen.

Herr Gysi, es ist ja nicht nur Sahra Wagenknecht, die diese Diskussion immer wieder anfacht, sondern auch ihr Ehemann, der ehemalige Linken-Vorsitzende Oskar Lafontaine. Der hat…

Die sind beide eine Einheit.

Ich konnte meine Frage noch gar nicht stellen.

Das ist aber trotzdem eine gute Antwort, oder? (lacht)

AfD-Vize Alexander Gauland zollt Sahra Wagenknecht für ihre Äußerungen großes Lob. Nervt sie so etwas?

Das macht mich eher besorgt. Das darf uns nicht passieren. Übrigens: Soziale Forderungen stellen auch die Rechtsextremisten. Aber gerade bei der Frage der Flüchtlinge muss es einen gravierenden Unterschied geben. Und den muss man aufrechterhalten.

Die AfD befindet sich insgesamt im Aufwind, besonders in Ostdeutschland…

… und in Bayern! Dort liegen sie unter den westdeutschen Ländern am besten.

Im Politbarometer-Extra für Sachsen-Anhalt werden der Partei zwei Monate vor der Landtagswahl 15 Prozent vorausgesagt. Lässt sich die AfD noch stoppen?

Ja, aber wohl nicht sofort, sondern nur längerfristig. Ich hoffe, dass wir es bis 2017 so schaffen, dass sie nicht in den Bundestag einzieht. Aber bis dahin ist noch viel zu tun. Die AfD instrumentalisiert die Flüchtlingsdiskussion, befeuert auch Wünsche nach Renationalisierung. Menschen fühlen sich überfordert, und das nutzt diese Partei aus. Weil die Politik ja auch nicht klar ist: Was will nun eigentlich die Regierung? Seehofer redet so, Merkel redet anders. Es gibt keine klare Linie. Die abstrakten Ängste sind immer die schlimmsten. Dort, wo Menschen muslimischen Glaubens wohnen, wird nicht rechtsextrem gewählt. Die demokratischen Parteien müssen in dieser Frage zusammenfinden, so wie sie gemeinsam Konsequenzen aus dem Behördenversagen beim NSU gezogen haben. Die Bekämpfung der Rechtsentwicklung in Deutschland ist ungeheuer wichtig. Wer wie Herr Seehofer glaubt, das hinzubekommen, indem man Parolen der AfD übernimmt, irrt gewaltig.

In den großen Parteien gibt es Stimmen, die der AfD auch für Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz zweistellige Ergebnisse vorhersagen, sollte der Flüchtlingszuzug nicht drastisch verringert werden. Denken Sie das auch?

Das ist schon wieder so eine Instrumentalisierung. Da drohen Leute ihrer eigenen Partei mit einem bestimmten Wahlergebnis, um etwas Bestimmtes zu erreichen. Sie wollen eine andere Flüchtlingspolitik und instrumentalisieren dafür die AfD. Die Frage geht nun an die Bundesregierung: Hat sie ein Kreuz oder hat sie keines? Was ich tragisch finde: Im Augenblick ist auf die Kanzlerin mehr Verlass als auf die SPD. Reduzierung gibt es nur durch wirksame Bekämpfung der Fluchtursachen.

924 Übergriffe auf Flüchtlingsunterkünfte im vergangenen Jahr, insgesamt kippt die Stimmung. Ist ihrem Eindruck nach das „Wir schaffen das“ noch Maxime der Bundesregierung?

Wenn ich sage, Straftaten müssen konsequent verfolgt werden, meine ich das eine wie das andere. Die Übergriffe am Kölner Hauptbahnhof, aber eben auch die wachsende Zahl von Angriffen gegen Flüchtlinge und ihre Unterkünfte. Die Angriffe auf Asylheime sind inzwischen wie selbstverständlich in den Nachrichten. Man hätte sie sofort konsequent ahnden müssen, damit das jedem Nachfolge-Täter vergeht.

Gregor Gysi (67) ist Bundestagsabgeordneter der Linken. Von 1990 bis 2000 war er Fraktionsvorsitzender der PDS im Bundestag, von 2005 bis Oktober 2015 Chef der Linksfraktion. Das Gespräch führte Matthias Meisner.

Zur Startseite