Zum Tod von Helmut Kohl: Mit der Wucht des großen Kriegers
Er hat das Land geprägt wie wenige andere. In seinen besten Zeiten galt Helmut Kohl als Verkörperung Europas. In seinen schlechtesten als Verfemter. Aber auch als halb gelähmter Riese blieb er, was er war: eine Jahrhundertfigur.
Er war ein Kind des Krieges, bis zuletzt. Wer die Geschichte noch nicht kannte vom großen Bruder Werner, der 1944 zurück in den Krieg musste und dem Kleineren auftrug, auf die Mutter acht zu geben: „Pass’ auf dich auf, ich komme nicht wieder“ – wer davon nicht wusste, der hat es in den letzten Jahren immer wieder aus dem Mund des Mannes hören können, der halb gelähmt und im Rollstuhl sein Vermächtnis zu ordnen suchte. Das Trauma des Halbwüchsigen erzählte viel von Helmut Kohl. In seinem langen politischen Wirken hat er wechselnde Rollen zugeschrieben bekommen, widersprüchliche, vom Jungrebellen zum „Aussitzer“, von der Provinz-„Birne“ zum Ehrenbürger Europas, vom Parteireformer zum Parteispendensünder.
Immer jedoch ist er ein Kind des Krieges geblieben, ein Überlebender, den die erbarmungslose Härte jener Tage ebenso geprägt hat wie die Sehnsucht nach Frieden. Am 16. Juni 2017 hat Helmut Kohl seinen letzten Frieden gefunden.
Deutschland, lautet in solchen Fällen die Standardformel für Trauerredner, habe einen seiner großen Männer verloren. Auf Helmut Kohl mag sie nicht richtig passen. Kaum etwas ist so bezeichnend für das Verhältnis vieler Deutscher zu dem Mann aus Oggersheim wie der Umstand, dass wahrscheinlich erst sein Tod die Möglichkeit eröffnet, ihn als Jahrhundertfigur zu begreifen.
Zu Lebzeiten hat er dafür zu viel polarisiert – im doppelten Sinne: einer, an dem sich viele gerieben haben, der zugleich lustvoll selbst provozierte. Bei den wenigen öffentlichen Auftritten in den letzten Jahren konnte es schon mal vorkommen, dass der alte Mann im Rollstuhl wegzudämmern schien. Aber wenn die Rede auf seine alten Gegner kam, die „Sozzn“, Schröder und Lafontaine voran, dann blitzte sein Auge auf. Feindschaften hat er lebenslang gepflegt.
Für seine Generation war das nicht ungewöhnlich. Helmut Josef Michael Kohl kam am 3. April 1930 in Friesenheim bei Ludwigshafen als Sohn eines Finanzbeamten und einer Lehrerstochter zur Welt. Die Eltern standen dem katholischen Zentrum nah und den Nazis fern. Kohl wuchs im Krieg auf und in den Kalten Krieg hinein.
Er war als 16-Jähriger in die CDU eingetreten
Das politische Klima der Zeit schwankte zwischen Konrad Adenauers rheinischem Paternalismus und der Hochspannung einer Ost-West-Konfrontation, die früh auch auf die innenpolitische Auseinandersetzung zwischen den beiden großen Volksparteien CDU und SPD abfärbte. Als 16-Jähriger in die CDU eingetreten, erlebte der Jungunionist 1949 in Heidelberg live mit, wie Adenauer die SPD als „Helfershelfer“ der britischen Besatzungsmacht beschimpfte. Hier die guten Bürger, da die vaterlandslosen Gesellen – der Frontstellung blieb er verhaftet bis zum Rechtsbruch.
Für Kohl war Politik von früh an Berufung. Das Studium – erst Jura, dann Geschichte und Politik, erst in Frankfurt, dann in Heidelberg – absolvierte er eher als Mittel zum Zweck. Es endete mit dem Doktorgrad, damals der einzige Abschluss, der nicht auf eine Beamtenlaufbahn zielte. Mit 17 war Kohl Mitbegründer der Jungen Union in der roten Industriestadt Ludwigshafen, mit 23 saß er im Vorstand des CDU-Bezirks Pfalz, mit 30 gewann er als jüngster Abgeordneter ein Mandat im Mainzer Landtag und führte den Kreisverband Ludwigshafen. Den Altvorderen im Landesverband begann zu dämmern, dass der hochgewachsene Jungbulle mit der Lust an Provokationen und Kampfkandidaturen ihren Herrenclub ernsthaft aufmischen wollte.
Vier Jahre später war er Fraktionschef, noch mal drei Jahre später Landesvorsitzender und Mitglied im CDU-Bundesvorstand, 1969 Ministerpräsident. Die „Walz von der Pfalz“ machte sich auf den Weg, als nächstes die Republik aufzurollen. Zwei Jahre später unterlag er noch Rainer Barzel bei der Wahl zum CDU-Bundesvorsitzenden. Doch nach weiteren zwei Jahren und Barzels vergeblichem Versuch, Bundeskanzler Willy Brandt mit einem konstruktiven Misstrauensvotum zu stürzen, fiel der Vorsitz Kohl 1973 fast automatisch zu. Der Pfälzer war 43 Jahre alt. Er sollte das Amt 25 Jahre lang nicht mehr abgeben.
Allein die trockenen Daten dieser Karriere lassen etwas von der Wucht des jungen Kohl erahnen. Andere nutzten die Trümmer- und Wirtschaftswunderjahre, um Zeitungsimperien und Handelsriesen aufzubauen. Kohl machte in Politik. Er kam als Rebell. Statt sich in Gefolgschaft von Altvorderen geduldig hochzuarbeiten, räumte er sie beiseite.
Sein früher Kampfruf lautete: Modernisierung. Kohls Rheinland-Pfalz wurde zum Labor für eine gesellschaftspolitische Neuausrichtung der kirchentreuen Honoratiorenpartei CDU, an deren Ende die Volkspartei stand. Sein Kultusminister hieß Bernhard Vogel – mit ihm fiel die dogmatische Fixierung auf konfessionelle „Bekenntnisschulen“. Sein Sozialminister war Heiner Geißler – der sollte später als Familienminister und CDU-Generalsekretär die Partei für ein Frauenbild jenseits von Kinder-Küche-Kirche öffnen. Später kamen Norbert Blüm, Rita Süssmuth, Richard von Weizsäcker, Kurt Biedenkopf. Kohl hat sie alle gefördert. Es war lange Zeit eine gelungene Symbiose: Die einen hatten Ideen, der andere organisierte das Machtgefüge.
Pech für den Revolutionär nur, dass eine andere, linke Revolution ihn überrollte. Vor Willy Brandts „Mehr Demokratie wagen“, vor Woodstock und Studentenrevolte wirkte selbst die modernisierte CDU als Teil des Muffs von tausend Jahren. Kohl hat die „68er“ immer verachtet. Darin steckte eine tiefe Enttäuschung. Der intellektuelle Mainstream hatte seine Modernisierung schlicht ignoriert. Mit der Parole von der „geistig-moralischen Wende“ hat er später versucht, die Deutungshoheit zurückzugewinnen. Es sollte ihm nie gelingen. Zur Macht kam der Rebell Kohl, ironisch genug, als Mann der etablierten Republik.
Der Weg ins Kanzleramt war mit Winkelzügen gepflastert
Es sollte ja auch noch ein bisschen dauern dahin. Der Weg ins Kanzleramt war mit Winkelzügen gepflastert, die den Kandidaten als Taktiker zeigten. 1976 bekam der Kanzlerkandidat Kohl fast die absolute Mehrheit, aber die sozialliberale unter Schmidt blieb im Amt, und er ging als Oppositionsführer nach Bonn. Weiteren Ambitionen stand aber „Männerfreund“ Franz Josef Strauß im Weg. Kohl, von Konkurrenten in den eigenen Reihen zusätzlich unter Druck gesetzt, musste dem CSU-Chef beim nächsten Anlauf gegen die sozialliberale Koalition 1980 den Vortritt lassen. Fast hätte ihn sein Widerstand den Fraktionsvorsitz gekostet. Aber Kohl, reif für den Rücktritt, blieb einfach sitzen. Und es kam, wie er vermutet hatte: Strauß’ Kandidatur mobilisierte die Gegner statt der eigenen Anhänger und scheiterte. Kohls gelehrige Schülerin Angela Merkel hat das Szenario später ganz ähnlich nachgespielt.
Zur Macht verhalf Kohl ein Putsch anderer. 1982 kündigte die FDP unter Walter Scheel und Hans-Dietrich Genscher der SPD Helmut Schmidts die Koalition auf und verhalf Kohl ins Kanzleramt. Er sollte dort 16 Jahre lang bleiben.
Selbstverständlich erschien das ganz und gar nicht. Kohl war in der eigenen Partei weit entfernt vom Patriarchen der späten Jahre. Der Weg zur Macht hatte Gescheiterte und Verletzte hinterlassen, von Kurt Biedenkopf bis Ernst Albrecht. Zeitlebens ein schlechter Redner, lieferte Kohl mit pfälzisch vernuschelter Grammatik Material für das Zerrbild des tumben Provinzlers mit der seltsamen Vorliebe für Saumagen. Er hat das trotzig gepflegt und Staatsoberhäupter im „Deidesheimer Hof“ mit der Lokalspezialität bewirtet. Kohl wusste ja, dass sie schmeckt. Das erste Andenken im Geschichtsmuseum noch zu Lebzeiten war bezeichnenderweise die Strickjacke, in der er Michail Gorbatschow im Kaukasus das Ja zur Einheit abluchste.
Kohls Kanzlerjahre zerfielen in zwei scharf getrennte Phasen: Vor 1989 – und danach. Wäre es bei der ersten Phase geblieben, müsste jetzt die mäßig interessante Geschichte eines Pragmatikers folgen. Der verstand sich auf Macht und wartete mit Festlegungen, bis klar war, wohin der Zug ging. Die Zeiten waren durchaus aufgeregt. Nato-Nachrüstung, Gesundheits-, Renten- und Steuerreformen, Ronald Reagans „Krieg der Sterne“ und die Katastrophe von Tschernobyl entzündeten heftige Debatten. Aber selbst die – von Vorgänger Schmidt beschlossene – Nachrüstung mit Mittelstrecken-Atomraketen wurde erst viel später als Schachzug deutbar, der der Sowjetunion finanziell das Rückgrat brach.
Kohls Machtbasis in den eigenen Reihen blieb prekär, das Verhältnis zur CSU und zur gewendeten FDP kompliziert. Geholfen hat ihm oft das legendäre Adressbuch, das verblüfften CDU-Kreisvorsitzenden vor wichtigen Partei-Entscheidungen abendliche Anrufe des Kanzlers höchstpersönlich eintrug. Kohl erinnerte dann gerne an die Begegnung beim Weinfest vor acht Jahren, die der derart Umschmeichelte längst vergessen hatte. Die Basis, nicht das Parteiestablishment, wurde seine beste Stütze. Auf sie berief er sich, die verstand er, auf sie konnte er bauen, so wie sie auf ihn baute - ein pater familias in der Familie CDU.
Loyalität im engeren Umfeld war eine schwierige, zweischneidige Angelegenheit. Kohl konnte Gefolgschaften um sich herum schaffen, einen kleinen Kreis Bedingungsloser. Als seine langjährige Sekretärin Juliane Weber sich im Spenden-Untersuchungsausschuss an nichts erinnerte, trug ihre Handtasche dezent seine Initialen. Aber der misstrauische Riese hielt selbst enge Begleiter stets ein Stück auf Distanz. Aufkündigung von Gefolgschaft nahm er sofort persönlich; wer einmal draußen war, verfiel in Bann.
1989 war Helmut Kohl politisch erstmal am Ende
Politik war sein Leben, und Politik war ihm Krieg. Wer da überleben will, muss wachsam sein. Er wusste zu gut, dass viele nicht die Nähe zu ihm suchten, sondern die Nähe zur Macht. Über Andere konnte er verletzend urteilen, rüpeln wie auf dem Schulhof, aber war – auch das gehört zur Wahrheit – oft hellsichtig in der Einschätzung von Stärken und Schwächen. Gleichgestellte hat er geschickt umarmt. In Europa und der Welt machte er das Du und die Sauna-Freundschaft zu Instrumenten der Diplomatie.
1989 war Helmut Kohl allerdings politisch erstmal am Ende. Sicher, er hatte den Putsch von Bremen überlebt. Eine Gruppe um Geißler, Süssmuth und Biedenkopf wollte beim Parteitag Lothar Späth zum CDU-Chef machen. Kohl hatte Wind bekommen und rührte sich nicht vom Bühnenplatz, obwohl ein Prostata-Geschwür höllisch schmerzte. Der Putsch brach ab, bevor er begann.
Kohl stand trotzdem das Ende vor Augen. Er hatte ein Thema unterschätzt, das zum ersten Mal in der Geschichte der Republik sogar die Parteienlandschaft veränderte: die Umweltbewegung, die das „Ende des Wachstums“ beschwor. Der alte Kohl hat eingeräumt, dass es ein Fehler war, Öko-Pioniere wie Herbert Gruhl aus der CDU zu graulen. Der aktive Kohl hielt die Ökos für einen letzten Nachhall der ’68 in Grobstrick-Pullovern und Rot-Grün in Hessen mit dem Turnschuhminister Joschka Fischer für einen Witz. Als er Walter Wallmann zum ersten Bundesumweltminister der Republik ernannte, war Tschernobyl schon explodiert. Kohl hatte taktisch richtig reagiert, aber strategisch zu spät.
Die Weltgeschichte hat ihn gerettet. Der Ostblock begann zu bröckeln, die Menschen zogen auf die Straßen, zuletzt brach die Mauer zusammen. Und auf einmal war das Kind des letzten Krieges genau der richtige Mann zur richtigen Zeit. Er hatte sich vorher nie verständlich machen können mit seinen Versuchen, die Traumata des 20. Jahrhunderts symbolisch zu überwinden.
Das Wort von der „Gnade der späten Geburt“ beim Israel-Besuch – ein Zitat von Günther Grass – wurde ihm ebenso als Revisionismus ausgelegt wie die Treffen an den Soldatengräbern von Verdun und Bitburg mit dem Franzosen François Mitterrand und dem Amerikaner Ronald Reagan. Dass da nebenbei der kleine Helmut den eigenen Schmerz zu bannen versuchte, hat keiner begriffen. „Ich weiß, wovon ich rede“, hat er noch im Herbst 2014 in einem Appell für Europa beschworen. „Ich habe viele Tote gesehen.“ Europa als Friedenswerk – schon für die Generation nach ihm war das nur noch Floskel. Für ihn nie.
Aber als die Mauer fiel, passte alles wieder zusammen. Der historische Blick ergänzte sich bestens mit der nüchternen Sicht des Kleinbürgers. Der war sicher: Freiheit bedeutete den meisten Menschen hinter der Mauer ganz praktisch die Freiheit zu kaufen und zu reisen. Er kannte die kleinen Leute daheim – wieso sollten die in Dresden und Rostock so viel anders sein?
Kohl hat die Einheit nicht herbeigeführt. Aber er hat in unübersichtlichen Lagen richtig gehandelt, den richtigen Ton und das richtige Tempo getroffen, manchmal genau überlegt, oft instinktiv. Es gab da diesen Moment im Kreis europäischer Staats- und Regierungschefs, als Margaret Thatcher wieder vor der Rückkehr eines großdeutschen Reichs warnte. Kohl hat nicht argumentiert, sondern die Geschichte seines gefallenen Bruders erzählt. Es soll sehr still geworden sein.
Die Britin hat natürlich trotzdem weiter gepokert. Aber Kohl wurde trotzdem der „Kanzler der Einheit“. Nach dem Wahlsieg 1990 über den saarländischen Super-Wessi Oskar Lafontaine blieben ihm noch acht Jahre, das Erreichte abzusichern. Kohl ging den Weg, der ihm historisch vorgezeichnet schien. Dass deutsche Einheit und europäische Einheit die zwei Seiten einer Medaille seien, hat er von da an wiederholt, bis es wirklich keiner mehr hören mochte.
Die Ära Kohl endete am 27. September 1998
Geprägt hat er beide Seiten der Münze wie kein Zweiter, ebenso geschickt wie beharrlich. Bloß kein Großmachtgehabe, lieber zu leise auftreten in Europa als zu laut, die enge Freundschaft zu Paris beschwören notfalls wider besseres Wissen, das eigene Licht unter dem Scheffel verstecken, ökonomisch, militärisch sowieso. Dass der FDP-Außenminister Klaus Kinkel die eigene Regierung gegen den Jugoslawien-Einsatz der Bundeswehr verklagen konnte, ohne dass die Koalition zerbrach, war nur möglich mit dem Kriegskind auf dem Kanzlerstuhl. Kohl hat lieber gezahlt als Soldaten geschickt. Der Vertrag von Maastricht und der Euro waren nur möglich, weil der Wirtschaftsriese sich winzig machte.
Aber Kohl wusste, was er tat. Die gemeinsame Währung war kein romantischer Tribut an ein erträumtes Europa. Kohl war immer überzeugt, dass Deutschland seine Stärke nur im Verbund mit den Nachbarn nutzen könne. Er war Machtpolitiker genug, um die Osterweiterung der EU als einzigen Weg zu sehen, eine neue Spaltung Europas zu verhindern.
Und der Deutsche hatte begriffen, dass sich die Welt änderte. Kohl reiste mit großen Wirtschaftsdelegationen durch Asien, als man daheim China, Indien und Südkorea noch für Entwicklungsländer hielt. Das Wort „Globalisierung“ gab es nicht, die Tatsache schon. Ein Europa der Kleinstaaten hatte keine Zukunft, und die gemeinsame Währung konnte die Kleinstaaterei überwinden – dafür nahm er sogar in Kauf, dass das eigene Volk ihm nicht folgte.
Doch gescheitert ist er am Ende an sich selbst. Für den einen Teil konnte er nichts – nach 16 Jahren war auch die geduldigste Wählerschaft für einen Wechsel zu haben. Die Zeit des Mannes war abgelaufen, der beim Parteiabend die Ohren der CDU-Delegierten mit Alleinunterhalter Franz Lambert an der Wersi-Orgel traktierte und dem „Jäger aus Kurpfalz“.
Am anderen Teil war er selbst schuld. Die CDU hatte einen Kronprinzen, einen scharfen Kopf und glänzenden Redner. Doch Kohl traute Wolfgang Schäuble den Sieg nicht zu. Wie viel Abwägen dahinter steckte, wie viel Selbstüberhebung und wie viel bloße Gewohnheit des Machtkampfs – kaum zu sagen. Kohl erledigte den Konkurrenten mit einem letzten taktischen Geniestreich. Er ernannte Schäuble zum Wunschnachfolger und riss damit die Entscheidung über den Zeitpunkt an sich. Die CDU folgte ihm ein letztes Mal. Viele taten es ohne Glauben.
Mit der Parteispenden-Affäre brach seine Welt endgültig zusammen
Am 27. September 1998 endete die Ära Kohl. Dass seine Wahlniederlage im ersten rot-grünen Bündnis auf Bundesebene mündete, geschmiedet mit dem einstigen Turnschuhträger Fischer, hat ihn doppelt geärgert.
Aber erst ein Jahr später brach seine Welt endgültig zusammen. Die Aufdeckung der Parteispenden-Affäre kostete Kohl den Ehrenvorsitz und nahm jede Chance auf ein zweites Leben als Elder Statesman. Sie war eine letzte Reminiszenz an eine Zeit, in der ein CDU-Vorsitzender sich im höheren Recht wähnen konnte, wenn er Ehrenwort über Gesetz stellte und schwarze Kassen zur Abwehr einer angeblichen roten Gefahr anlegte. Mit „Bimbes“ gegen die „Sozzn“ – so bauernschlau simpel konnte der Ehrenbürger Europas denken. Er war eben, bis zuletzt, auch ein Kind des Kalten Krieges.
Und doch: Eine Jahrhundertfigur! Noch der halb gelähmte Riese, den ein schwerer Sturz an den Rollstuhl gefesselt hatte, noch die kaum mehr verständlichen Sätze, mühsam von Zetteln abgelesen, die ihm seine zweite Frau Maike Kohl-Richter hinschob – noch dieser Gezeichnete ließ den unbedingten Willen erkennen, dieses Land zu prägen.
Er hat es geprägt wie wenige andere. In seinen besten Zeiten galt er als Verkörperung der CDU und als Verkörperung Europas, in seinen schlechtesten wurde er ein Verfemter. Er blieb bodenständig und unbestechlich als Person; wenn er sich mal was gönnen wollte, war es ein Pfälzer Wein und eine Ladung Spaghetti Carbonara. Er konnte hart sein gegen sich selbst und hart gegen andere, aber auch schelmisch, ironisch, zugewandt. Er hat hohe Preise gezahlt für sein Leben und andere hohe Preise zahlen lassen. Seine zwei Söhne haben sich von ihm losgesagt, nachdem ihre Mutter Hannelore sich das Leben genommen hatte.
Die ihn zuletzt noch besuchen durften im Oggersheimer Bungalow mit dem Mauer-Stück im Garten, berichteten von einem, der manchmal müde wurde, aber rastlos blieb. Kalt gelassen hat er die Menschen nie. Helmut Kohl hat zum Urteil herausgefordert, für ihn oder gegen ihn, Freund oder Feind.
Er war ein großer Krieger, bis zuletzt.