Die 100-Milliarden-Bazooka für die Bundeswehr ist falsch: Mit dem Geld sollte besser die Energieabhängigkeit von Russland reduziert werden
Es sieht so aus, als ob das Sondervermögen für die Bundeswehr vor allem dazu dient, von Versäumnissen im Umgang mit Russland abzulenken. Ein Kommentar.
Plötzliche Erschütterungen verursachen Schock, Lähmung, Aktionismus. Deutschland rief nach der russischen Invasion in die Ukraine eine Zeitenwende aus. Drei Tage nach Beginn des Angriffskrieges kündigte Bundeskanzler Olaf Scholz in einer Sondersitzung des Parlaments an, die Bundeswehr mit zusätzlich 100 Milliarden Euro im Rahmen eines Sondervermögens auszustatten. Dafür sei eine Grundgesetzänderung nötig. Das Zwei-Prozent-Ziel der Nato soll künftig eingehalten werden.
Außerdem wurden umfangreiche Waffenlieferungen an die Ukraine auf den Weg gebracht, Wirtschaftsminister Robert Habeck schloss in Katar und den Vereinigten Arabischen Emiraten Verträge über die Lieferung von Flüssiggas ab. Das sind despotisch regierte Länder, die Menschenrechte missachten. Politik des kleineren Übels ist zur Maxime geworden. An sich spricht nichts dagegen.
Auch nach Fukushima regierte die Angst
Hundert Milliarden Euro sind viel Geld. Unter anderem sollen damit bis zu 35 US-Tarnkappenkampfflugzeuge vom Typ F-35 angeschafft werden, die im Rahmen der nuklearen Teilhabe russische Atomwaffen abschießen können. Die Befehlsgewalt über einen solchen Einsatz liegt bei der US-Regierung, die Verbündeten haben ein unverbindliches Mitspracherecht.
Darüber hinaus wird die Errichtung eines Raketenschutzschildes über Deutschland geprüft, das mehrere Milliarden Euro kosten würde. Im Fokus steht das Arrow-3-System aus Israel. „Das Ziel ist eine leistungsfähige, hochmoderne, fortschrittliche Bundeswehr, die uns zuverlässig schützt“, hatte Scholz bei seiner Rede im Bundestag gesagt.
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Das erinnert mich an mich: So reagieren Deutsche oft, wenn außerhalb ihrer Grenzen etwas Schreckliches passiert. Nach der Erdbeben- und Tsunami-Katastrophe im 9000 Kilometer entfernten Kernkraftwerk Fukushima wurde der beschleunigte Ausstieg aus der Atomnutzung beschlossen. Auch damals regierte die Angst. Nur wenige fragten, wie wahrscheinlich ein solches Erdbeben der Stärke neun bis zehn mit nachfolgendem Tsunami in Deutschland sei.
Das Undenkbare war denkbar geworden. „Wenn ein Komet vom Himmel stürzt, sind unsere Atomkraftwerke nicht mehr sicher“, bilanzierte der ARD-Moderator in einer Sondersendung. „Und ich habe das Gefühl, dass dieses Risiko neu bewertet wird.“ Stefan Mappus, damals Ministerpräsident von Baden-Württemberg, sagte: „Viele Menschen haben Angst, da kann man nicht einfach sagen, weiter so. Da können Sie nicht einfach rational argumentieren.“
Putin profitierte von der deutschen Energiepolitik
Die Folgen reichen bis heute. Das Land steigt aus der Atom- und Kohleenergie aus, während die Verluste weder durch Einsparungen noch durch den Ausbau erneuerbarer Energien vollständig kompensiert werden können. Diese Malaise trieb Deutschland in die Energieabhängigkeit von Russland. Wladimir Putin profitierte auch von der deutschen Atom-Angst.
In den USA war ein ähnlicher Mechanismus nach den Anschlägen vom 11. September 2001 sichtbar geworden. Weil Terroristen die Twin Towers des World Trade Centers in New York einstürzen lassen konnten, schien alles möglich zu sein. Dutzende Horror-Szenarien wurden durchgespielt. Auch in diesem Fall trat durch Statistiken, denen zufolge Menschen weit eher durch den Sturz von einer Leiter ums Leben kommen als durch einen Terroranschlag, keine Beruhigung ein. Was folgte, waren Afghanistan- und Irakkrieg, Guantanamo und Abu Ghraib.
Der Inspekteur des Deutschen Heeres, Generalleutnant Alfons Mais, urteilte am Tag der Ukraine-Invasion des russischen Militärs, die Bundeswehr stehe „mehr oder weniger blank da“. Sie sei lediglich bedingt einsatzbereit, schrieb er im Netzwerk Linkedin. „Die Optionen, die wir der Politik zur Unterstützung des Nato-Bündnisses anbieten können, sind extrem limitiert.“
Frankreich und Großbritannien haben sehr viel effizientere Armeen
Das ist in der Tat ein Skandal. Die Bundeswehr muss intakt, ihre Gerätschaft funktionstüchtig, ihr Abschreckungspotenzial groß und ihre Ausrüstung modern sein. Wer allerdings behauptet, das sei mit dem gegenwärtigen Etat nicht möglich, verkennt, dass Länder wie Frankreich und Großbritannien mit ähnlichen Mitteln sehr viel effizientere Armeen unterhalten.
Müssen es jetzt also 100 Milliarden Euro sein, eine weitere Bazooka? Vorausgesetzt, dass Geld nicht grenzenlos vorhanden ist, muss aus drei Gründen gegen diese neue Form des Aktionismus Einspruch erhoben werden. Erstens nützt eine solche Megasumme der Ukraine rein gar nichts. Vielmehr entsteht der Verdacht, dass sie vor allem dazu dient, von Versäumnissen im Umgang mit Russland und bei der Instandhaltung der Bundeswehr abzulenken.
Psychologen bezeichnen Aktivitäten, die keinen sinnvollen Bezug zur gerade vorhandenen Situation haben, als Übersprungshandlung. Nur ein Beispiel: Etwa die Hälfte der 200 Panzer der Bundeswehr ist einsatzfähig. Polen indes, das weniger als ein Viertel des deutschen Verteidigungsetats zur Verfügung hat, verfügt über mehr als 900 Kampfpanzer. Zugrunde liegt das Haushaltsjahr 2020.
Die Nato gibt jährlich mehr als eine Billion Euro fürs Militär aus
Zweitens wirkt es absurd, einen derart großen Betrag zu beschließen, weil Deutschland (jährlicher Verteidigungsetat 53 Milliarden Euro) sich gegen Russland (62 Milliarden) verteidigen will, dessen Truppen von der Ukraine (6 Milliarden) immer wieder zurückgeworfen werden. Die 30 Nato-Staaten geben bereits jährlich mehr als eine Billion Euro fürs Militär aus. Die Gefahr ist groß, dass von den 100 Milliarden Euro Dinge angeschafft werden, die zwar sinnvoll klingen, aber eher symbolischen Wert haben – wie ein Raketenabwehrsystem, das weder gegen Hyperschallwaffen noch Interkontinentalraketen etwas taugt.
Drittens ließe sich ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro in der aktuellen Situation sehr viel sinnvoller verwenden als für die Befriedigung des Ehrgeizes, das Land mit dem drittgrößten Verteidigungshaushalt – nach den USA und China - zu sein. Etwa für den verstärkten Ankauf von Flüssiggas oder, falls Putin von sich aus den Energie-Exporthahn zudreht, für Kompensationszahlungen an die heimische Industrie und für Überbrückungshilfen an Arbeiter, die arbeitslos werden, weil ihre Werke schließen müssen.
Das Ziel muss eine autarke Energieversorgung sein
Krisenbewältigung bedeutet, Prioritäten setzen zu müssen. Alles, was hilft, das Leiden der Ukrainer möglichst schnell zu beenden, weil Putins Russland auch auf dem Energiesektor unter Druck gerät, gehört dazu. Herauszukommen aus der Energieabhängigkeit von Russland: Das sollte an oberster Stelle stehen. Der dafür notwendige Transformationsprozess ließe sich mit 100 Milliarden Euro ganz sicher beschleunigen. Mit einem Embargo drohen zu können, ist allemal besser, als von einem Embargo bedroht zu werden.
Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass Putin solche Maßnahmen derzeit am empfindlichsten treffen. Die Wahrscheinlichkeit, dass seine Truppen übermorgen an der Oder stehen, ist vergleichsweise gering. Das Nato-Bündnis, das aus guten Gründen selbst nicht Kriegspartei werden will, steht in der Pflicht, das Ziel einer autarken Energieversorgung als essenziellen Teil seines Sicherheitsbegriffes zu verfolgen.