EU-Sondertreffen zur Asylpolitik: Mini-Gipfel endet ohne Fortschritt
Beim EU-Sondertreffen in Brüssel ging Kanzlerin Merkel einen Schritt auf Italien zu - doch einen Durchbruch im Streit um die europäische Asylpolitik hat sie nicht erreicht.
Die Staats- und Regierungschefs von 16 EU-Staaten haben sich am Sonntag in Brüssel getrennt, ohne im jahrelangen Streit um die europäische Asylpolitik einen Fortschritt zu erzielen. Der informelle Mini-Gipfel hatte seinen politischen Ursprung in Berlin und München: Wegen des unionsinternen Streits um die von Innenminister Horst Seehofer (CSU) angedrohten Zurückweisungen von Flüchtlingen an der Grenze braucht Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) vorzeigbare Erfolge in der Migrationspolitik auf europäischer Ebene.
Worum geht es für Kanzlerin Merkel in diesen Tagen?
Der Mini-Gipfel bildet den Auftakt einer Woche, die entscheidend für Merkels Kanzlerschaft werden könnte. Noch nie war das Zerwürfnis zwischen Christdemokraten und den Christsozialen, ausgelöst durch Seehofers Plan zur Zurückweisung bestimmter Flüchtlinge, so groß wie in diesen Tagen. Der Innenminister hat damit gedroht, im nationalen Alleingang bereits in anderen Ländern registrierte Flüchtlinge zurückweisen zu lassen, wenn bis Anfang Juli keine „wirkungsgleiche“ Regelung auf europäischer Ebene gefunden ist. Als entscheidend gilt auf europäischer Ebene dabei mehr noch als das heutige Sondertreffen der reguläre EU-Gipfel am kommenden Donnerstag und Freitag.
Bevor sich die Aufmerksamkeit der Regierungsparteien CDU, CSU und SPD am Ende der kommenden Woche ein zweites Mal nach Brüssel richtet, dürfte die Flüchtlingspolitik auch unmittelbar das Geschehen in Berlin dominieren. Am Dienstag erwartet die Unionsfraktion zunächst von Merkel weitere Erklärungen, wie die viel beschworene „europäische Lösung“ zur Beilegung des unionsinternen Flüchtlingsstreits aussehen könnte. Am Dienstagabend dürfte die Zerreißprobe in der Flüchtlingspolitik unter anderen Vorzeichen dann weitergehen: Auf Wunsch der SPD tagt der Koalitionsausschuss, und Parteichefin Andrea Nahles hat vorab schon einmal klar gemacht, dass es ihr dabei um eine Ansage gegen ein mögliches Abdriften der CSU auf einen anti-europäischen Kurs geht. „Seehofer ist eine Gefahr für Europa“, hat Nahles erklärt.
Aber auch der Koalitionsausschuss wird in Merkels Schicksalswoche nur eine Zwischenetappe darstellen. Auf der Basis der Ergebnisse des regulären EU-Gipfels will die CSU am kommenden Sonntag entscheiden, ob Seehofer die angedrohten Zurückweisungen an der Grenze tatsächlich anordnen soll. Auch die CDU-Führungsgremien wollen am kommenden Sonntag bilanzieren, was Merkel in der Flüchtlingspolitik auf europäischer Ebene erreicht hat.
Was hat Merkel beim Brüsseler Sondertreffen erreicht?
Den Durchbruch für eine einvernehmliche Lösung hat der Mini-Gipfel nicht gebracht. Das räumte Merkel ein, als sie nach vier Stunden langen Beratungen wieder ins Flugzeug zurück nach Berlin stieg. „Wir werden in den nächsten Tagen und nach dem Gipfel weiter an der Lösung arbeiten“, sagte sie. Einig seien sich die Teilnehmer gewesen, den Außengrenzschutz zu stärken und „weitere Abkommen mit Herkunftsstaaten“ nach dem Vorbild des EU-Türkei-Deals zu schließen. Die bilateralen Abkommen, die sie braucht, um Seehofers Erwartungen zu erfüllen, erwähnte sie bei der Abreise nicht. Dies hat Gründe: Sie ist hier nicht weiter gekommen. Italien lehnte derartige Absprachen kategorisch ab.
Für das Sondertreffen vom Sonntag, das von Merkel initiiert und von EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker organisiert worden war, hatten neben Deutschland zunächst Griechenland, Italien, Bulgarien, Malta, Österreich, Frankreich und Spanien Mitte der vergangenen Woche ihre Teilnahme zugesagt. Später kamen nach Angaben der EU-Kommission auch noch Belgien, die Niederlande, Dänemark, Kroatien, Slowenien, Finnland, Schweden und Luxemburg hinzu.
Es fehlten allerdings die vier Visegrad-Staaten Ungarn, Polen, Tschechien und die Slowakei. Damit hat das Sondertreffen ein entscheidendes Manko. Denn ob eine „europäische Lösung“ gelingt, wird am Ende zu einem guten Teil auch davon abhängen, dass sich auch Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei in irgendeiner Form an einer Entlastung der Mittelmeer-Anrainer wie Italien beteiligen, in denen die Flüchtlinge zunächst europäischen Boden betreten. Diese Frage, die sich um die Reform des so genannten Dublin-Systems dreht, wird auch wieder Ende der Woche beim regulären EU-Gipfel mit allen 28 Mitgliedstaaten ins Zentrum rücken. Merkel dämpfte am Sonntag in Brüssel allerdings die Hoffnung, dass es in dem jahrelangen Streit am kommenden Donnerstag und Freitag einen Durchbruch gibt. Beim kommenden EU-Gipfel werde es „leider noch keine Gesamtlösung des Migrationsproblems“ geben, erklärte die Kanzlerin.
Weil es den ganzen großen Wurf bei der „europäischen Lösung“ also demnächst nicht geben wird, lotet Merkel in Brüssel bi- und trilaterale Absprachen „zum gegenseitigen Nutzen“ mit anderen EU-Partnern aus, um einen Alleingang Seehofers abzuwenden. Dies könnte beispielsweise aus Berliner Sicht auf ein Abkommen zwischen Deutschland, Österreich und Italien hinauslaufen, bei dem sich Rom dazu verpflichtet, von den beiden anderen Ländern Flüchtlinge wieder zurückzunehmen, die bereits in Italien registriert worden sind. Die Detailverhandlungen über solche Abkommen hätte dann Seehofer als Innenminister zu bewerkstelligen.
Doch ganz so einfach dürften sich die von Merkel angestrebten Mehr-Staaten-Absprachen nicht gestalten: In der vergangenen Woche hatte EU-Kommissionschef Juncker an die Teilnehmerstaaten zunächst ein Positionspapier verschickt, in dem – ganz im Sinne Merkels – von flexiblen Rücknahmemechanismen für Flüchtlinge an den europäischen Binnengrenzen die Rede war. Italiens Regierungschef Giuseppe Conte hatte allerdings sofort Einspruch gegen die geplante Rücknahme der Flüchtlinge erhoben – und Juncker musste sein Papier wieder kassieren.
Wird die italienische Regierung zum neuen Gegenspieler Merkels in der EU?
Ja. Dass Italiens Premier Conte in der vergangenen Woche den Vorschlägen Merkels und Junckers eine Absage erteilte, zeigt, dass die römische Regierung der rechtsextremen Lega und der Fünf-Sterne-Protestbewegung gegenüber Berlin und Brüssel einen neuen Ton anschlägt. In der Sache geht es der Regierung in Rom zunächst darum, Italien gegen Flüchtlinge abzuschotten. Merkel möchte hingegen mit Blick auf den Unionsstreit im Verbund mit anderen EU-Partnern ein Weiterziehen von Flüchtlingen aus Italien Richtung Deutschland verhindern. Diesem Plan erteilte Italiens Innenminister Matteo Salvini, der starke Mann in der Regierung, eine Absage. „Wir brauchen niemanden, der zu uns zurückkommt. Wir brauchen Leute, die unser Land verlassen“, sagte der Lega-Politiker dem „Spiegel“. Merkel ging am Sonntag in Brüssel ein Stück auf die italienische Regierung zu, indem sie die Bedeutung des EU-Außengrenzenschutzes und der Eindämmung der illegalen Migration nach Europa hervorhob.
Welche Rolle spielt der Vorschlag Frankreichs und Spaniens für Flüchtlingszentren?
Unmittelbar vor dem Brüsseler Sondertreffen hatten Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Spaniens Ministerpräsident Pedro Sanchez am Samstag nach einem Treffen im Pariser Elysée-Palast vorgeschlagen, „geschlossene Zentren“ für Asylbewerber auf europäischem Boden zu errichten. In diesen Zentren sollten die Migranten dem spanisch-französischen Vorschlag zufolge so lange zum Aufenthalt gezwungen sein, bis über ihre Asylanträge entschieden sei. Macron erklärte, dass die Europäer bei der Rückführung von nicht asylberechtigten Migranten in ihre Herkunftsländer zusammenarbeiten sollten.
Zudem schlug Frankreichs Staatschef vor, diese Zentren in Zusammenarbeit mit dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR zu betreiben und sämtliche EU-Staaten dabei finanziell in die Pflicht zu nehmen. Auch seien finanzielle Sanktionen gegen EU-Mitglieder möglich, die sich nicht an der Aufnahme von Flüchtlingen beteiligten, erklärte Macron. In EU-Diplomatenkreisen hieß es zu dem Vorschlag, dass noch weitere Details zu klären seien. Insbesondere sei die Frage offen, ob Frankreich bereit sei, solche geschlossenen Zentren auf eigenem Boden zu errichten.