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Flüchtlinge in Idomeni direkt an der Grenze zwischen Griechenland und Mazedonien.
© dpa

EU-Türkei-Gipfel: Merkels Türkei-Plan hebelt Grundsatz des Flüchtlingsrechts aus

Angela Merkel hat einen besorgniserregenden Plan, der die im internationalen Flüchtlingsrecht verankerte Einzelfallprüfung zur Disposition stellt. Eine Analyse.

Angela Merkel steht für ihre „europäisch-türkische Lösung“ ein entscheidender Tag bevor. Auf dem Sondergipfel mit der Türkei am 7. März  soll die türkische Regierung zustimmen, Asylsuchende künftig aus Griechenland zurückzunehmen. Im Gegenzug sollen möglichst viele EU-Mitgliedsstaaten eine noch zu bestimmende Zahl Asylsuchende direkt aus der Türkei aufnehmen. Möglich macht es die bevorstehende griechische Einstufung der Türkei als sicherer Drittstaat, angezettelt auch durch die Bundesregierung. 

Aus kurzfristiger Sicht ist dieser Plan verständlich. Eine direkte Aufnahme von Flüchtlingen bei gleichzeitigem Grenzschutz zwischen der Türkei und Griechenland ist sicher nicht das schlimmste politische und humanitäre Szenario, das gegenwärtige Stranden der Menschen in Griechenland und den Balkanländern ist es. Und wer über einen Funken realpolitisches Urteilsvermögen verfügt, wird einsehen, dass Deutschland die Flüchtlingsaufnahme in der EU auf Dauer nicht allein politisch schultern kann. Besorgniserregend ist der Plan dennoch. Denn de facto stellt er die im internationalen Flüchtlingsrecht verankerte Einzelfallprüfung zur Disposition. Ohne diesen Grundpfeiler wird in Zukunft aber kein europäisches Asylsystem funktionieren.

Die Einzelfallprüfung ist essentiell

Im internationalen Flüchtlingsrecht gilt der Grundsatz, dass ablehnende Entscheidungen über Asylanträge individuell geprüft werden. Dieser Grundsatz ist nicht irgendeine Nettigkeit. Er fußt auf der  zentralen Rechtsverpflichtung des Flüchtlingsrechts, wonach Menschen nicht in Länder zurückgeschickt werden dürfen, in denen ihnen Verfolgung oder anderer schwerer Schaden droht. Asylsuchende müssen auch dann geltend machen können, dass in ihrem konkreten Fall eine derartige Gefährdung vorliegt, wenn sie aus einem angeblichen „sicheren“ Herkunftsland kommen oder sich vorher in einem sicheren Staat aufgehalten haben. Auch das Europarecht sieht vor, dass Asylsuchende zumindest die Möglichkeit haben, die angebliche Sicherheit eines Drittstaats in ihrer besonderen Situation anzufechten. Dabei müssen sie sich Rechtsbeistand suchen können. Erst der Grundsatz der individuellen Prüfung verleiht dem Asylsystem die Legitimation, Asylsuchende auch abzulehnen. Gerade auch wenn die Zugangszahlen hoch sind, lässt sich der Grundsatz daher nicht einfach als Etikette abtun.

Ohne die Einzelfallprüfung kann auch keiner abgeschoben werden

Sollten griechische Behörden bald Asylanträge mit Verweis auf die Sicherheit in der Türkei ablehnen, führt schon aus rechtlichen Gründen kein Weg daran vorbei, diese Sicherheit auch für den Einzelfall zu überprüfen. Ob die Türkei überhaupt den europarechtlichen Anforderungen eines sicheren Drittstaats genügt, darüber lässt sich streiten. Allein die zahlreichen Zurückweisungen syrischer und irakischer Asylsuchenden durch türkische Grenzschützer wecken daran Zweifel. Dies wird in rechtsstaatlichen Einzelfallüberprüfungen zu überprüfen sein. Doch die sind von Natur aus aufwändig. Auf den griechischen Inseln lässt sich jedenfalls kein wirksamer Rechtsbeistand gegen eine Einstufung der Türkei als sicher finden. Und dass die überlasteten griechischen Behörden derzeit in der Lage wären, eine einzelfallbezogene Prüfung der Einstufung der Türkei als sicherer Drittstaat vorzunehmen, ist nicht vorstellbar. Momentan wird das verfügbare Personal dafür eingesetzt, die als Hotspots bekannten Registrierungszentren der EU zum Laufen zu bringen.

Ist die Türkei ein sicherer Drittstaat?

Noch deutlicher würde der Grundsatz der individuellen Prüfung Schaden nehmen, sollten Nato-Schiffe Asylsuchende direkt in die Türkei zurück befördern. Zwar dient der vom Kanzleramt eingefädelte NATO-Einsatz zunächst nur der Aufklärung und soll als Nebeneffekt die verfehdete türkische und griechische Regierung miteinander ins Gespräch bringen. Mittelfristig aber, sobald andere EU-Länder die Türkei als sicheren Drittstaat anerkannt haben, sollen Nato-Schiffe Asylsuchende auch in die Türkei zurückschicken. Doch auf an Bord eines Marineschiffes lässt sich nicht rechtsstaatlich prüfen, ob die Türkei ein sicherer Drittstaat für einen bestimmten Asylsuchenden ist.

Wir befinden uns an einer entscheidenden Weggabelung zur Zukunft des Flüchtlingsschutzes in Europa und darüber hinaus. Die Rechtsstaatsprinzipien des europäischen und internationalen Flüchtlingsrechts stehen oft in Konflikt mit einer politisch gewollten, kurzfristig wirksamen Steuerung der Zugangszahlen. Was wirklich wirkt, um die Zugangszahlen zu reduzieren, ist meistens rechtswidrig (das Vorgehen der Türkei, Asylsuchende gar nicht weiter reisen zu lassen, ausgenommen).

Die Pläne sind politisch fahrlässig

Diesen Konflikt zu Lasten des Grundsatzes individueller Prüfung aufzulösen, spricht nicht nur einer grundlegenden zivilisatorischen Errungenschaft des Flüchtlingsrechts Hohn. Es ist auch politisch fahrlässig. Denn dass der Grundsatz individueller Prüfung nicht nur auf dem Papier existiert, sondern praktisch funktioniert, ist im Interesse aller europäischer Staaten, die in Zukunft in und außerhalb Europas einen wirksamen Flüchtlingsschutz gewährleisten wollen. Schon allein wer Asylsuchende in andere EU-Länder abschieben will, braucht den Grundsatz. Eine Abkehr von rechtsstaatlichen Verfahren in einigen Mitgliedsstaaten hat überhaupt erst zu einer ungleichen Verteilung der Asylsuchenden in der EU geführt, weil daraufhin eine Abschiebung dorthin nicht mehr möglich war. Die EU riskiert außerdem den Rest ihrer außenpolitischen Glaubwürdigkeit, anderswo für einen wirksamen Flüchtlingsschutz zu werben und dort auch unterstützend tätig zu sein. Das aber ist Voraussetzung dafür, die Zahl der Ankömmlinge in der EU langfristig zu senken.

Besser wäre die Re-Europäisierung des Flüchtlingsschutzes

Die rechtsstaatliche Alternative für die Anwendung des Drittstaatenkonzepts ist unbefriedigend für alle, die mit kurzfristigen Maßnahmen die Zugangszahlen in der EU senken wollen, und liegt in einer Re-Europäisierung des Flüchtlingsschutzes: Erstens eine tatkräftigere Unterstützung zum Aufbau von Registrierungszentren auf den griechischen Inseln und zur Durchführung von Asylverfahren auf dem griechischen Festland, die den europäischen Mindeststandards genügen. Dazu zweitens eine gemeinsam finanzierte Notfallunterbringung in Griechenland, deren Bedingungen den Mindeststandards entsprechen. Drittens eine direkte Abnahme von Asylsuchenden aus der Türkei in so nennenswerter Anzahl, dass die Türkei ihren Grenzschutz verbessert. Viertens, wenn die Zugangszahlen sinken, eine weitere Aufnahme von Asylsuchenden aus Griechenland als Notfall-Maßnahme.

Es führt kein Weg vorbei an der Verteilung der Flüchtlinge in der EU

Schließlich eine Neufassung der Dublin-Verordnung zur Zuständigkeit für Asylverfahren, in der gerade so viel Quote drinsteckt, dass es im gegenwärtigen Brüsseler Klima politisch machbar ist: Künftig sollten nur die Asylsuchenden, die irregulär eingereist sind und weder Familienangehörige noch befreundete Sponsoren oder ein Jobangebot in einem bestimmten Land haben, über einen festen Schlüssel in der EU verteilt werden. Haben Asylsuchende nach Anerkennung ihres Asylgesuchs eine Arbeit in einem anderen Mitgliedsland gefunden, sollten sie dorthin weiterwandern dürfen. Auch ein solches Vorgehen ist gespickt mit realpolitischen Kompromissen. Die Grundfesten des Flüchtlingsrechts aber lässt es intakt. Wir werden sie noch brauchen.

Julian Lehmann arbeitet am Global Public Policy Institute (GPPi) in Berlin und ist Mitautor des Buches "Schiffbruch. Das Versagen der europäischen Flüchtlingspolitik" (Droemer-Knaur). Zuvor war er für das UN-Flüchtlingshilfswerk tätig.

Julian Lehmann

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