Der EU-Gipfel und die Flüchtlingskrise: Angela Merkel allein gegen alle?
Für die Kanzlerin ist die Lage mit dem EU-Gipfel nicht besser geworden. Wie lange kann sie die Geduld der Wähler noch strapazieren? Fragen und Antworten zum Thema.
Nach dem Gipfel, sagt eine alterprobte Brüsseler Weisheit, ist vor dem Gipfel. Das aktuelle Treffen der europäischen Staats- und Regierungschefs fügt dem EU-Sprichwortschatz eine Variante hinzu: Diesmal war vor dem Gipfel schon nach dem Gipfel – und vor dem nächsten. Der Terroranschlag in Ankara am Mittwochabend hat alle Pläne für die Beratungen zur Flüchtlingsfrage zunichtegemacht. Der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu musste zu Hause bleiben; damit fehlte der Hauptakteur für jene europäisch-türkische Lösung der Flüchtlingskrise, auf den Kanzlerin Angela Merkel und die EU-Kommission bauen. Ein Sondergipfel in zwei Wochen soll das Versäumte nachholen – gerade mal eine Woche vor den drei wichtigen deutschen Landtagswahlen. Angela Merkel setzt notgedrungen alles auf eine Karte. Doch die letzten zwei Tage in Brüssel haben deutlich gezeigt, wie schwer es wird, mit diesem Blatt zu siegen. Und zwei Wochen können für eine Parteichefin unter Druck zur langen Zeit werden.
Warum ist die Türkei so wichtig?
Natürlich hat Merkel Verständnis dafür, dass Davutoglu nach dem schweren Anschlag auf einen Militärkonvoi mit 28 Toten in Ankara blieb. In der Bundesregierung hoffen jetzt alle, dass der Vorfall nicht noch Weiterungen hat. Der Attentäter soll ein Kurde aus Syrien sein, der als Flüchtling in die Türkei kam. Ein türkischer Rachefeldzug in den Kurdengebieten könnte die Bemühungen um Friedensgespräche für Syrien vereiteln und die türkische Politik so stark binden, dass sie sich für die Flüchtlingsprobleme der Europäer nicht mehr so interessiert.
Auf jeden Fall war Merkels Gipfel-Choreografie hinfällig. Die beruht nicht zuletzt auf Gruppendynamik. Es ist eine Sache, daheim forsche Interviews zu geben, aber eine ganz andere, die gleichen Sätze von Angesicht zu Angesicht zu wiederholen. Davutoglus Anwesenheit hätte da bremsend wirken können.
Vor allem aber fiel das vorab geplante Treffen eines „Clubs der Willigen“ mit dem Türken aus. Österreichs Vizekanzler Reinhold Mitterlehner deutete das flugs zum politischen Aus um: „Es kann jeder ableiten, dass der Club der Willigen in der Form offensichtlich nicht mehr besteht.“ Da war nun allerdings der Wunsch der Vater des Gedankens. Mitterlehner gehört – wie der Außenminister und die Innenministerin in Wien – der konservativen Österreichischen Volkspartei (ÖVP) an, einer Art CSU mit Populismus-Turbo.
Trotzdem zeigen Polemiken wie diese eins der Hauptprobleme für Merkels europäische Lösung: Viele ihrer EU-Partner haben entweder Angst vor Rechtsnationalisten oder sind gleich selber welche. So musste sich die Kanzlerin damit begnügen, komplizierte Partner wenigstens in Einzelgesprächen und kleineren Runden zu bearbeiten. Dazu zählte Frankreichs Präsident François Hollande, der sich – der harschen Aufkündigung weiterer Solidarität durch seinen Premier Manuel Valls zum Trotz – zum Willigen-Clubtreffen angesagt hatte.
Doch wichtige Begegnungen fehlten. Davutoglu sollte sich mit dem Griechen Alexis Tsipras treffen, um das seit Langem schwierige Verhältnis der Nato-Partner zu entspannen. Merkel wollte in dem kleinen Kreis die Frage ansprechen, die sie für den größeren Kreis der 28 schon vorher wegen Aussichtslosigkeit von der Tagesordnung genommen hatte: die Verteilung von Flüchtlingskontingenten aus der Türkei auf europäische Staaten.
Sind in zwei Wochen Merkels Chancen besser – oder eher schlechter?
Die Gefahr, dass die Ausgangslage vor dem nächsten Gipfel noch düsterer wird, ist nicht von der Hand zu weisen. Österreich hat mit seiner „täglichen Obergrenze“ vorgeführt, wie schnell nationale Innenpolitik die Lage für ganz Europa verändern kann. Merkel gab sich gar keine Mühe, ihren Ärger darüber zu verbergen: „Das ist eine Entscheidung Österreichs“, kommentierte sie tief in der Nacht, „sie hat manchen überrascht, insbesondere an der Westbalkanroute.“
Tatsächlich mussten sich die Österreicher nicht nur von EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker anhören, dass sie gegen geltendes EU-Recht verstießen. Auch die Staaten auf der Flüchtlingsroute zwischen Griechenland und Österreich gingen Bundeskanzler Werner Faymann intern hart an. Und der Italiener Matteo Renzi schimpfte: Er könne sich nicht vorstellen, den Brenner wieder zum Engpass im Reise- und Güterverkehr zu machen.
Der Sozialdemokrat Faymann gab sich ungerührt und Merkel gleich noch einen mit: „Die hat natürlich keine ausgesprochene Freude.“ Aber derlei hitzige Diskussionen beim Brüsseler Abendessen zeigen, dass die deutsche Wahrnehmung „Merkel allein gegen alle“ nicht ganz stimmt. Letztlich haben viele ein Interesse an einer Lösung der Probleme an den EU-Außengrenzen, aus ganz unterschiedlichen Gründen. Österreichs Tages-Obergrenze funktioniert nur so lange reibungslos, wie das Ventil nach Deutschland offen bleibt. Auch die Nationalisten in Polen und Tschechien sind große Freunde der Schengen-Grenzfreiheit.
Renzi drohte zudem mit Mittelkürzung, wenn die Ost-Staaten weiter jede Solidarität verweigern. Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) warnte bei der Asylpaket-Debatte im Bundestag ebenfalls vor nicht näher spezifizierten „Folgen“, falls andere weiter versuchen sollten, das Flüchtlingsproblem nur bei den Deutschen abzuladen. Und Griechenland ließ am Freitagmittag durchblicken, dass es notfalls eine Einigung mit Großbritannien zur Vermeidung des „Grexit“ blockiert, wenn die anderen nicht verbindlich zusagen, auf weitere nationale Alleingänge bis Anfang März zu verzichten.
So gesehen war es vielleicht nicht bloß Pfeifen im Walde, als Merkel in den frühen Morgenstunden resümierte: „Ich bin sehr zufrieden mit der Diskussion.“ Sie hofft zudem darauf, dass die Türkei bis zum Sondergipfel unter Beweis stellt, dass sie die Schlepperboote an der Ägäisküste an die Kette legen kann, auch mit Hilfe der Nato-Flotte, die dort inzwischen kreuzt. Am Tag vor dem Gipfel war der winterlich gedämpfte Flüchtlingsstrom nach Griechenland plötzlich wieder auf 3653 Menschen hochgeschnellt.
Was bedeutet das für die Wahlkämpfe der CDU?
Wieder warten, wieder nichts, was wie ein Durchbruch aussieht – Merkels Kurs strapaziert die Geduld von Wählern und Parteianhängern. Ohnmächtig muss die baden-württembergische CDU mit ansehen, dass sie nach den jüngsten Umfragen als zweite Kraft hinter den Grünen zu landen droht. In Rheinland-Pfalz glauben Wahlkämpfer schon seit einiger Zeit zu erkennen, dass der Aufstieg der „Alternative für Deutschland“ (AfD) nicht mehr wie bisher zulasten aller Parteien geht – die Rechtspopulisten nähren sich jetzt von frustrierten CDU-Anhängern.
Geringer wird deren Frust in den zwei Wochen nicht. Ob Merkels Kritiker auf die Wahltermine Rücksicht nehmen, ist ungewiss. Für Zwischenbilanzen, wie sie Merkel versprochen und ihre Gegner händereibend vorbereitet haben, fehlt jetzt zwar die Grundlage. Für Sticheleien und Attacken nicht. Horst Seehofer hat die nächste schon in petto: Am 4. März besucht der CSU-Chef Ungarns Regierungschef Viktor Orban. Er will in Budapest auch einen Vortrag halten. Das Thema: „Herausforderungen für Europa aus ungarischer und bayerischer Sicht“.