Flüchtlinge: Merkels Plan, Europas Grenzen
„Langen Atem und Geduld“ erwartet die Bundeskanzlerin für die Aufnahme und Integration von Flüchtlingen. Was ist Angela Merkels Plan?
Angela Merkel droht anderen, wenn überhaupt, dann sanft. Um so mehr fällt es auf, wenn sie mal deutlich wird. Am Mittwoch winkte die Bundeskanzlerin all den Partnern in Europa, die sich gegen eine gemeinsame Flüchtlingspolitik stemmen, unverblümt mit dem Grenzpfahl. Wenn sich die EU nicht auf einen Verteilschlüssel für Flüchtlinge einige, dann stelle sich die Frage, „ob wir Schengen noch auf Dauer aufrecht erhalten können“. Die Rückkehr zu nationalen Grenzkontrollen – das ist eigentlich genau das, was Merkel vehement ablehnt. Aber für die Kanzlerin wird sich in diesen Tagen entscheiden, ob ihr Flüchtlingskrisenplan eine Chance hat oder nicht. Dafür braucht sie die EU-Partner, die Türkei und Unterstützung daheim. Die Generaldebatte im Bundestag bot gute Gelegenheit, die Ausgangslage zu besichtigen.
Wie will Angela Merkel die Einreise von Flüchtlingen bremsen?
Dass sie von willkürlichen nationalen Obergrenzen nichts hält, hat Merkel zuletzt dem CSU-Parteitag deutlich gesagt. Am Mittwoch stellt sie aber erneut klar, dass das keine Politik der offenen Tür bedeutet: Die Zahl der Ankommenden zu verringern, „auch das ist unser Ziel“, sagte sie in der Generaldebatte des Bundestages.
Der Weg dorthin soll über Ankara führen. Die Türkei sei ein „Schlüsselpartner“, sagt die Kanzlerin im Bundestag – was man in diesem Fall wörtlich nehmen kann: Wenn jemand die Tür nach Europa auf- und zuschließen kann, dann das Land, durch das fast alle Flüchtlinge kommen; nicht nur Syrer und Iraker, sondern auch Afghanen und Pakistani.
Am Sonntag trifft sich die EU mit der Türkei zum Sondergipfel in Brüssel. Merkels erstes Ziel muss es dort sein, vom türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan und Ministerpräsident Ahmet Davutoglu eine belastbare Zusage zur Grenz-Zusammenarbeit zu bekommen. Nur mit dieser in der Tasche, sagen Kenner der Abläufe in Europa, könne die deutsche Kanzlerin überhaupt erst anfangen, auch die anderen europäischen Staaten für eine Kontingent- und Verteilungslösung zu gewinnen.
Ist die Hoffnung auf eine Verständigung mit der Türkei realistisch?
Im Grundsatz hat die türkische Führung sich zur Kooperation bereit erklärt. Umsonst ist die für die Europäer aber nicht zu haben. Merkel rief die Kosten in Erinnerung: Es geht um Milliardenhilfen für die bessere Versorgung der bisher rund zwei Millionen Menschen, die aus Syrien in das Nachbarland geflüchtet sind. Und es geht auch um Schritte zur Annäherung an Europa. Ein heikles Thema – zumal nach dem Abschuss des russischen Jagdbombers durch türkische Kampfjets – ist dabei Ankaras Idee von Schutzzonen in Nordsyrien, die die Türkei gerne mit Hilfe von Partnern militärisch sichern würde.
Die Türkei und Europa wollen kooperieren
Umgekehrt wollen Merkel und die Europäer nicht dabei halt machen, dass die Türkei quasi zum Grenzwächter Europas wird: Auf ihrer Wunschliste steht auch ein Rückübernahme-Abkommen für Drittstaatler. Asylsuchende aus Pakistan oder Bangladesh könnten dann direkt aus den geplanten EU-„Hotspots“ in Griechenland zurückgeschickt werden.
Hat Merkel Unterstützung aus der EU?
Die Kanzlerin bemühte sich um höflichen Ton: „Die Erscheinung Europas ist im Moment ... verbesserungswürdig, würd’ ich mal sagen.“ Nur wenige Staaten wie Österreich stehen auf ihrer Seite. Die neue nationalistische Regierung in Warschau hat sogar die Zusage der Vorgänger wieder kassiert, dass Polen sich an der Verteilung von Flüchtlingen beteiligt.
Am Mittwoch schien auch Frankreich von der Stange zu gehen. Die „Süddeutsche Zeitung“ zitierte Premier Manuel Valls mit der Formulierung, Europa könne „nicht noch mehr“ Flüchtlinge aufnehmen. Der Regierungschef ließ dementieren. Sein Büro erklärte, Valls habe „nicht mehr so viele“ Flüchtlinge gesagt.
Das muss man nicht unbedingt glauben – politisch heißt der Rückzieher aber jedenfalls, dass Merkel keine neue Lage vorfindet, wenn sie am Mittwochabend erstmals nach den Terroranschlägen in Paris mit Präsident Francois Hollande spricht. Dazu hatte Valls undementiert gesagt, die Kontrolle der Außengrenzen sei „essenziell für die Zukunft der EU“. Frankreich hat nun ein noch viel größeres Interesse daran, dass die Ägäis keine Zone der Illegalität bleibt. Das ist mit Merkels Zielen deckungsgleich.
Aber wie lässt sich der Widerstand vieler EU-Staaten gegen einen Verteilschlüssel für Flüchtlinge überwinden?
Wenn überhaupt, dann in Kombination mit festen, klaren Kontingenten statt eines nach oben offenen Prozentsystems. Bisher herrscht freilich in vielen europäischen Hauptstädten die Sichtweise vor, das Flüchtlingsproblem sei ein deutsches und gehe die anderen gar nichts an. Experten halten es darum nicht für ausgeschlossen, dass zunächst nur eine „Koalition der Willigen“ in der EU ein Kontingentsystem mitträgt.
Dichte Grenzen und Kontrollen würden auch Wirtschaft und Tourismus schaden
Merkels Bemerkung über mögliche Folgen für den Schengen-Raum zeigt freilich: Das „deutsche Problem“ kann sich auch für andere zum Problem auswachsen. Denn die Interessen sind gar nicht so einseitig verteilt, wie es die öffentliche Frontstellung „Fast alle gegen Deutschland“ vermuten lässt. So haben Staaten an den Außengrenzen im Süden wie Italien und Griechenland Interesse an einer Reform des Dublin-Abkommens, das bisher ihnen die Hauptlast aufbürdet. Für die Staaten an der Balkanroute wiederum ist die Selbsteinzäunung so wenig eine Dauerlösung wie sie es für die Staaten im Zentrum wäre. Denn die Rückkehr zu alten Grenzen hielte nicht nur Flüchtlinge draußen – ein Ende des Schengen-Systems hätte gravierende Folgen für den Binnenhandel, vielleicht gar für den Tourismus.
Welche Druckmittel hat die EU gegenüber ihren Mitgliedsstaaten, um die Aufnahme von Flüchtlingen gemeinsam umzusetzen?
Der Beschluss von Ende September, insgesamt 160000 Flüchtlinge von Griechenland und Italien nach einem Quotensystem über die gesamte Europäische Union zu verteilen, hat Gesetzeskraft. Folglich kann die Brüsseler EU-Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen einen Staat wie Polen einleiten, dessen neue Rechts-Regierung eben angekündigt hat, den Beschluss zur Aufnahme der Flüchtlinge ignorieren zu wollen. Am Ende eines solchen Verstoßes kann eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof stehen, der dann ein Bußgeld gegen das jeweilige Land verhängen kann. Allerdings dauert ein solches Verfahren selbst im günstigsten Fall etwa eineinhalb Jahre – und könnte wohl auch erst Ende 2016 überhaupt eingeleitet werden. Denn die Entscheidung von Ende September bezieht sich auf einen Zeitraum von zwei Jahren und könnte folglich erst im Anschluss überprüft werden.
Ein weiteres Druckmittel, das in Brüssel immer offener angesprochen wird, ist das Geld aus den EU-Regionalentwicklungsprogrammen, von denen gerade die osteuropäischen Staaten besonders anhängig sind. Im kommenden Jahr steht eine Art Zwischenüberprüfung des EU-Finanzrahmens bis 2020 an. Europaparlamentspräsident Martin Schulz hat kürzlich davon gesprochen, dass es in Europa „keine Solidarität à la carte“ geben dürfe. Das wiederum dürfte sich auch darauf beziehen, dass es gerade Polen und die baltischen Länder waren, die im Zuge der Russland-Ukraine-Krise Solidarität der übrigen EU- wie Nato-Partner hatten, nun aber in der Flüchtlingsfrage extrem zurückhaltend und ablehnend sind.
Und wie steht es um Merkels Rückhalt in der Heimat?
Wenn man den Applaus im Bundestag zum Maßstab nimmt – bestens. „Weiterer Beifall geht aufs Konto der Debattenzeit“, mahnte Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU), als die Union nach Merkels Rede mit dem Klatschen gar nicht aufhören wollten. Selbst Grüne und Linke applaudierten der Kanzlerin und nahmen sie gegen den CSU-Chef Horst Seehofer in Schutz, der Merkel beim CSU-Parteitag mit seiner „Obergrenzen“-Forderung vorgeführt hatte.
Ganz große Koalition im Bundestag
Doch zugleich machten Zwischentöne deutlich: Der Kanzlerin bleibt nicht mehr unendlich viel Zeit. Auch die SPD dringt inzwischen unüberhörbar auf rasche Lösungen: „So kann es im nächsten Jahr nicht weitergehen“, warnt Fraktionschefs Thomas Oppermann. „Wir müssen die Geschwindigkeit des Zuzugs deutlich verringern.“ Unionskollege Volker Kauder versucht, Geduld anzumahnen: Der Kölner Dom sei auch nicht in einem Jahr gebaut worden. Das ist freilich ein bedenklicher Vergleich. Die Kölner haben von der Grundsteinlegung bis zum letzten Stein 632 Jahre gebraucht.