Das Erbe nach 16 Jahren: Merkels Hypothek ist eine Partei rechts von der Union
Unter Angela Merkel fühlten sich die Konservativen in der CDU verloren. So entstand die AfD. Das ist ein Bruch im Nachkriegsdeutschland. Ein Abschiedsessay.
Sie tourt durch die Lande, sucht das Offene, ganz zum Schluss, so wie es ihr der alte Mitstreiter aus Physikertagen, Michael Schindhelm, zu Anfang geraten hatte. Ins Offene gehen – vielleicht danach, nach ihrer Kanzlerschaft: indem sie sich Rechenschaft ablegt über diese Zeit.
Angela Merkel, die erste Frau in diesem Amt, eine Ostdeutsche, eine, von der Mann es nie gedacht hatte.
Jedenfalls die Männer nicht, die in der CDU lange das Sagen hatten. Übergang sollte sie sein, nach Gerhard Schröder zu – nun ja, einem von Ihnen. Roland Koch, Günther Oettinger, Christian Wulff, ein paar andere noch. Namen, die heute der Politologe noch nennt und kennt. Aber sonst? Ja, Friedrich Merz, als Vintage-Politiker, ist wieder da. Und sie, sie ist auch immer noch da, noch.
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Vorbei, ein dummes Wort, das über Nachrufen steht. Aber richtig, noch ist es nicht vorbei. Merkel ist noch im Amt, das sie mitnimmt auf ihren Touren, ob die in den Wahlkreis an der Ostseeküste oder in die Balkan-Länder führen.
Die Kanzlerin kommt: Ein bisschen wie beim späten Helmut Kohl, als der Abschied nahm. Allerdings kandidierte er noch einmal. „Der Kanzler kommt!“, prangte auf den Plakaten. Der Kanzler kam – aber nicht als Captain Future. Und die Menschen kamen, um noch einmal den Mantel der Geschichte anzufassen, der ihn umwehte. Merkel kommt, und sie ist auch Geschichte, bald.
Womöglich wird sie länger Kanzlerin sein als Helmut Kohl
Ihr Mantel der Geschichte? Ist eine Zahl. 16 Jahre plus einige Tage. Wenn es so kommt, wie niemand will, wenn die Koalitionsverhandlungen nach der Wahl schwierig werden, und sie bis in den Dezember hinein regieren muss, geschäftsführend, dann kann sie sogar länger als Helmut Kohl im Kanzleramt gewesen sein. Welch ein Übergang. Übrigens wieder zu einem Mann, das scheint immerhin festzustehen.
Annalena Baerbock, die Grüne, mit ihren 40 Jahren eine Merkel-Enkelin, hat keine Chance. Und warum nicht? Auch ihretwegen, Merkels wegen. Denn an ihr wird gemessen, wer das Amt übernehmen will, im Guten wie im Schlechten. Gegen Merkel wirkt manch einer, eine energetisch, dynamisch, führungsstark in Gestus und Habitus. An ihren starken Tagen ist das bei Baerbock so. Manche finden das erfrischend, andere erschreckend. Gemessen an Merkel.
Nach Jahren der relativen Stille, der fehlenden Erklärungen, der Worte, die nicht gesprochen wurden, als alle auf sie gewartet haben, wirkt jeder, jede im Vergleich laut, der oder die eine klare politische Ansage nicht scheut. Oder überhaupt eine Ansage. Oder auch nur den Versuch einer Ansage. Kein Wunder, dass Männer die Merkel geben. Wechsel ja – aber Wandel, ob den die Deutschen wollen?
So ist das Land, so ist die CDU. Schauen wir uns doch um. Armin Laschet ist mit den Jahren immer merkeliger geworden. Als Journalist waren seine Leitartikel scharf, manche Worte regten auf, verletzten. Heute ist er moderierend, manchmal mäandernd, Wörter purzeln in den Raum, bilden Sätze, werden zum Strom. Aber zu einem, der nichts und niemanden mitreißt. Dass ausgerechnet er durch die schreckliche Flut im Wahlkampf weggerissen zu werden drohte, hat einen satirischen Zungenschlag.
Selbst ein Mindestlohn von 12 Euro wird noch als Merkels Verdienst gelten
Das Geheimnis ihrer Macht, Merkels Macht? Dass sie sich die Dinge, die Sachen, Ideen anverwandelt. Wie soll man sonst nennen, dass alles, was voran den Sozialdemokraten in ihren Regierungen mit Merkel gelang, mit der Kanzlerin heimgeht? Am Ende wird auch der Mindestlohn von zwölf Euro, mit dem Scholz im Wahlkampf wirbt, ihre Idee gewesen. So war es immer. Bei allem.
Und so war es auch hier: Vor Fukushima war sie noch energisch für die Atomkraft. Nach Fukushima war sie noch für die Atomkraft. Nach der Baden-Württemberg-Wahl eines Grünen an die Spitze schwenkte sie um – Frau Merkels Gespür für Macht. Ist ihre bedroht, und sei es, dass die Gefahr erst in der Ferne auftaucht. Da kann sie radikal denken und werden.
Oft, allzu oft gerinnt erst nachträglich zu einer Strategie, was vorher keine war. Merkel ist Physikerin, aber die planen nicht am Morgen: Heute erfinde ich die Relativitätstheorie. Sie versuchen, testen, prüfen, wägen ab – und benennen es dann später. Leipzig 2003, als sich Merkel einmal in Marktradikalismus versuchte, war ein Missverständnis. Versuch Ende.
Viele verstehen nicht so schnell wie Merkel. Einen Hauch von Hybris verspüren die, die ihr nahe gekommen sind. Hinter vorgehaltener Hand erzählen sie davon. Die anderen, wir hier draußen, außerhalb des Arkanums der Macht, bekommen es sehr selten zu sehen.
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Die CDU hat Merkel nie so recht verstanden. Und umgekehrt. Mit Folgen. Dass sie mit der großen humanitären Geste für die Flüchtlinge damals, vor sechs Jahren, keinen Plan entwickelte, wie es weitergehen soll, in Europa, im eigenen Land – das ist der Schlüsselmoment. Für sie als Kanzlerin, als Parteipolitikerin. Im Guten wie im Schlechten, im Land wie in ihrer CDU, der sie überhaupt erst das Amt verdankt.
Man mag kaum glauben, dass Merkel Christdemokratin ist
Ja, Merkel ist Christdemokratin, auch wenn man es in der Rückschau kaum glauben mag. Zumal die CDU längst nicht mehr die ist, die es mal gab. Sie ist: Merkel. Danach ist sie lange nichts.
Wie es ein Merkel-Kenner, der frühere SPD-Chef Sigmar Gabriel, dieser Tage sagte: „Dass diese Partei nicht mehr so richtig weiß, wofür sie da ist, hat natürlich auch mit Folgendem zu tun: Wenn sie früher nachts um drei Uhr ein CDU-Mitglied angerufen und gefragt haben, was typisch konservativ ist, hat es ihnen vorgebetet: Wehrpflicht, Atomenergie, keine Schulden machen und gegen die Roten sein. Was antwortet der jetzt? Wehrpflicht ist nicht mehr da. Atomenergie ist nicht mehr da. Mit den Roten regieren sie die ganze Zeit. Und Schulden haben sie auch gemacht.“
Das klingt witzig, ist nur kein Witz. Konservativ, liberal, sozial, die drei Strömungen der CDU, traditionell, und das Konservative ist die größte unter ihnen – so war es. Vor vielen Jahren. Vor 16 Jahren. Dann wurden die Konservativen mit den Jahren weniger, weil sie auch immer weniger wahrgenommen wurden, von Merkel und ihren Generalsekretären. Sie fühlten sich verloren. Heimatlos. Alexander Gauland ist so ein Fall. Und schuf den Fall AfD.
Was die Finanzkrise in der EU nicht vermocht hat, kam mit der „Flüchtlingskrise“: der Bruch in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Wie hatten Helmut Kohl und Franz Josef Strauß immer gewarnt! Wenn es Ausfransungen gab, Abspaltungen, dann auf der Linken. Aber auf der Rechten nicht, nicht so, keine solche Partei, die rechtspopulistische, rechtsradikale Kräfte sammelt und bleibt. Erstmals hat sich rechts der Union eine Partei auf Dauer breit machen können. In der Regierungszeit von Angela Merkel. Im Rechenschaftsbericht für das Land und die CDU ist das ihre Hypothek.