EU-Gipfel mit Türkei über Flüchtlinge: Merkel und Hollande - ein Gipfel, zwei Strategien
Kanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident François Hollande haben grundlegend unterschiedliche Auffassungen über die Aufnahme von Flüchtlingen. Dies erklärt auch Hollandes Vorbehalte gegenüber einem Türkei-Deal.
Zu den Eigenheiten von EU-Gipfeln gehört es, dass sie Bilder von Staatenlenkern produzieren, die Auskunft über den Zustand der EU geben sollen. Wer zu wem auf Distanz geht und wer wen umarmt – solche Symbolbilder illustrieren dann Zerwürfnis oder Schulterschluss, je nachdem. Im Fall von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und Frankreichs Staatschef François Hollande gab es am Donnerstag in Brüssel auch wieder derartige Bilder. Zu sehen waren die beiden gemeinsam mit dem ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko. Der gemeinsame Brüsseler Auftritt am Rande des EU-Gipfels kann als Beleg für eine durchaus gelungene Zusammenarbeit Merkels und Hollandes bei der Lösung der Ukraine-Krise gelten.
Ganz anders liegen die Dinge allerdings bei der Flüchtlingskrise, dem eigentlichen Thema in diesen Brüsseler Gipfeltagen. Zwar suchten Merkel und Hollande am Donnerstag auch bei diesem Thema den Schulterschluss, als sie sich in der Mittagszeit mit dem griechischen Ministerpräsidenten Alexis Tsipras trafen. Aber dennoch kriselt es zwischen den beiden, und das hängt mit einem weiteren Gipfelteilnehmer zusammen: An diesem Freitag wird der türkische Regierungschef Ahmet Davutoglu beim Treffen der 28 EU-Staats- und Regierungschefs erwartet. Es ist das zweite Mal innerhalb von zwölf Tagen, dass Davutoglu in Brüssel den Europäern seine Forderungen – darunter die Visa-Befreiung für türkische Bürger und die Eröffnung neuer Kapitel in den EU-Beitrittsgesprächen – im Gegenzug für Ankaras geplanten Beitrag zur Begrenzung der Flüchtlingszahlen darlegt.
Als er dies beim letzten Mal tat, geschah dies im Zuge einer Überrumpelungsaktion unter Beteiligung Merkels. Dass die Kanzlerin den französischen Staatschef als ihren wichtigsten EU-Partner davon nicht vorab informierte, wirkte in Paris wie ein Schock – und ist ein Signal für einen deutsch-französischen Entfremdungsprozess, der in der Flüchtlingskrise schon seit Monaten anhält.
Diplomaten: Beim letzten Gipfel hat Merkel einen Fehler gemacht
"Es gab keine Versöhnung, weil es gar keine Verstimmung gab", sagte Hollande am Donnerstag zum Auftakt des aktuellen Gipfels in Brüssel. Hinter vorgehaltener Hand sagen EU-Diplomaten aber, dass Merkel beim letzten Gipfel mit Davutoglu einen Fehler gemacht habe, den man so schnell nicht vergessen werde. Noch drei Tage vor dem Sondergipfel war Merkel in Paris gewesen und hatte sich mit Hollande über Lösungswege in der Flüchtlingskrise beraten. Von dem weit gehenden türkischen Forderungs- und Angebotskatalog war dabei noch keine Rede. Der geplante Deal kam erst auf den Gipfeltisch, nachdem die Kanzlerin in Brüssel den Überraschungscoup gemeinsam mit Davutoglu und dem niederländischen Regierungschef Mark Rutte eingefädelt hatte.
Dass Merkel bei ihrem Tête-à-Tête mit Davutoglu den französischen Präsidenten nicht miteinbezog, liegt wohl auch daran, dass sich in Berlin inzwischen Ernüchterung über die französische Flüchtlingspolitik breitgemacht hat. Bei der Münchner Sicherheitskonferenz hatte Frankreichs Regierungschef Manuel Valls im Februar eine Art Obergrenze verkündet und erklärt, dass sein Land nicht über die Aufnahme von 30.000 Flüchtlingen im Rahmen der beschlossenen Umverteilung von 160.000 Personen hinausgehen wolle.
Hollande selbst schlägt zwar eine verbindlichere Tonart an als sein Premierminister. Das ändert aber nichts daran, dass sich Frankreich grundsätzlich aus vielerlei Gründen in der Flüchtlingskrise nicht in der Pflicht sieht: Das Nachbarland hat wirtschaftliche Sorgen, dafür aber weniger demografische Probleme als Deutschland und obendrein schon in der Vergangenheit zahlreiche Einwanderer aufgenommen. Hinzu kommt, dass sich Hollande in der Flüchtlingspolitik keine Blöße gegenüber der Vorsitzenden des rechtspopulistischen Front National, Marine Le Pen, geben will. Pünktlich zum Gipfel bezeichnete sie die Politik der Kanzlerin als „Katastrophe“ für die EU und warnte davor, sich der „Erpressung“ durch die Türkei auszuliefern.
Hollande will in der Visapolitik Ankara nichts schenken
Trotz derartiger Verbalattacken will Hollande beim aktuellen Türkei-Gipfel konstruktiv an einer europäischen Lösung der Flüchtlingskrise mitarbeiten. Allerdings hat Frankreichs Staatschef bereits angekündigt, dass die Türkei sämtliche 72 Vorbedingungen zur Erteilung der Visafreiheit erfüllen müsse. Es könne hier „keinerlei Zugeständnisse“ geben, sagte Hollande. Immerhin zeigt sich Frankreich bei der Umverteilung der 160.000 Flüchtlinge vorbildlich. Das Nachbarland hat inzwischen 283 Schutzsuchende aus Griechenland und Italien aufgenommen – so viel wie kein anderes EU-Land. Ob damit aber die grundsätzliche deutsch-französische Kluft in der Flüchtlingskrise schmaler wird, steht auf einem anderen Blatt.
Dass sich nicht nur Hollande, sondern auch andere EU-Partner mit dem von der Kanzlerin angestrebten Türkei-Deal schwertun, lässt sich an dem Entwurf für die Vereinbarung mit Ankara ablesen. Aus dem Entwurf geht hervor, dass viele europäische Länder dem Vorschlag Merkels zur Aufnahme von Syrern direkt aus der Türkei weit gehend nur dann folgen wollen, wenn das Prinzip der Freiwilligkeit herrscht. In dem Entwurf ist festgehalten, dass die Aufnahme von 54.000 syrischen Flüchtlingen für die EU-Mitgliedstaaten vollständig freiwillig sein soll.