Streit mit Erdogan: Merkel sollte selbst die Luftwaffe in Incirlik besuchen
Die Kanzlerin muss Farbe bekennen – ihr Streit mit dem türkischen Präsidenten erledigt sich schließlich nicht einfach mit der Zeit. Ein Kommentar.
Dieser Streit hat das Zeug dazu, noch größer, sogar ganz groß zu werden: das Besuchsverbot für Bundestagsabgeordnete auf der Luftwaffenbasis Incirlik im Süden der Türkei. Das Treffen zwischen Bundeskanzlerin Angela Merkel und Präsident Recep Tayyip Erdogan am Rande des Nato-Gipfels in Warschau hat nicht nur keine Lösung gebracht. Es hat den Dissens auf eine andere Ebene gehoben.
Erdogan ist durchaus fähig, seine Politik zu ändern
Dass Merkel die Atmosphäre nach dem Gespräch als konstruktiv bezeichnete, entspricht ihrer Linie, Konfrontationen dadurch zu entgehen, dass sie die gar nicht erst an sich heranlässt, nicht wirklich, sprich offiziell, zur Kenntnis nimmt. Sie hofft wohl in Teilen darauf, dass sich das Thema durch Verschieben auf der Zeitachse erledigt.
Einmal, weil die Wellen, die die Armenien-Resolution vor allem durch Erdogan geschlagen hat, verebben. Zum Zweiten, weil der Präsident möglicherweise in dieser Zeit sehen wird, wozu seine Eskalation führt: zum Ausbleiben deutscher Touristen. Je unberechenbarer die Türkei mit Erdogan an der Spitze wirkt, desto mehr schadet er dem Land – und sich. Denn eine vergleichsweise gute wirtschaftliche Lage der Türkei ist wichtiger Teil dessen, was seine Macht sichert oder bröckeln lässt.
Erdogan weiß das. Er ist ja durchaus fähig, seine Politik zu ändern, grundlegend sogar, wenn er seine Macht bedroht sieht. Seine neuerliche Hinwendung zu Russland hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass die Touristen in großer Zahl ausblieben. Die Billigflüge waren staatlicherseits gestrichen worden. Auch die Wiederannäherung an Israel hat seinen Grund. Dessen Geheimdienstinformationen beispielsweise sind existenziell wichtig, um im Kampf gegen den IS erfolgreich zu sein, der quasi im türkischen Hausflur steht.
Welche Hebel die Kanzlerin hätte
Es geht im Streit mit Deutschland also auch darum, den Hebel zu finden, der Präsident Erdogan klarmacht, was es für Folgen haben kann, deutschen Abgeordneten weitere Besuche bei den Bundeswehr-Soldaten zu verweigern, die im Einsatz gegen die Terrormiliz IS in der Südtürkei stationiert sind. Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen war es bisher nicht gelungen, die türkische Führung umzustimmen.
Ein Hebel können Befürchtungen der Touristen durch den sich sogar verschärfenden Streit sein. Den zweiten zeigen die deutschen Politiker aus (fast) allen Fraktionen, die den Bundeswehr-Einsatz in Incirlik infrage stellen. Zurzeit sind dort 250 deutsche Soldaten mit Kampfjets und einem Tankflugzeug stationiert. Neben Aufklärungsflügen der Jets könnten auch die der Awacs-Flotte betroffen sein: ein Drittel der Besatzung der Nato-Maschinen sind Deutsche, und der Bundestag wird gefragt werden, ein Mandat für den Einsatz zu erteilen.
Insofern wäre es eine angemessene Reaktion, geradewegs eine Demonstration von Stärke gewesen, wenn Merkel Erdogan erklärt hätte, sie werde jetzt umgehend die Soldaten besuchen. Sie als Abgeordnete des Bundestags, mit Kollegen, die sie einlädt. Sollte Erdogan mal wagen, die auszuladen! So aber wird er sich zu weiterem Druck auf anderen Ebenen eingeladen fühlen. Und da erledigt sich nichts einfach mit der Zeit.