Rede zu Coronavirus-Krise: Merkel geht auf Nummer sicher – sie kann nicht anders
Die Kanzlerin beharrt rigoros darauf, dass die Zurückhaltung im öffentlichen Leben nicht aufgegeben werden darf. Das Risiko wäre zu groß. Ein Kommentar.
Die Angst ist ein schlechter Lehrmeister, denn sie lähmt die Bereitschaft, zwischen zwei Möglichkeiten zu entscheiden. Wer Angst hat, geht kein Risiko ein. Das kann gut sein. Aber wer Angst hat, Angst vor Veränderung, kann auch Chancen verpassen.
Stimmt es, dass Angela Merkel eine ängstliche Politikerin ist? Eine, die Risiken scheut, vor lauter Abwägen den Moment verpasst, die Richtung zu ändern? Wer dieses Charakterbild der Bundeskanzlerin teilt, wird sich durch ihre Regierungserklärung zur Coronavirus-Krise bestätigt sehen.
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Da ist die Warnung vor einem zu forschen Lockern der Restriktionen. Da ist die mit dieser Sorge verbundene, kaum versteckte Kritik an jenen Bundesländern, die dem normalen gesellschaftlichen Leben wieder schneller mehr Raum geben wollen.
Sie erwähnt ihr heftig kritisiertes Wort von den Diskussionsorgien nicht direkt, stellt es aber unausgesprochen vorsichtig in Frage, wenn sie dazu ermuntert, Widerspruch zu ertragen und sogar herauszufordern.
Aber Merkel wäre eben nicht Merkel, wenn sie nicht gleichzeitig mit allem, was sie sonst sagt, rigoros darauf beharrt, dass die Zurückhaltung im öffentlichen Leben nicht aufgegeben werden dürfe. Die Einschränkung der bürgerlichen Freiheitsrechte, so schwer und belastend dies auch sei, müsse im Interesse des übergeordneten Zieles ertragen werden.
Und dieses Ziel ist eben, eine Ausdehnung der Zahl der Neuinfektionen mit dem Coronavirus zu verhindern. Die Disziplin wird sich auszahlen, wenn wir uns nicht zu schnell in falscher Sicherheit wiegen.
Man kann diese Position für falsch halten, kann Merkel mangelnde Fähigkeit zur Reflexion unterstellen, geradezu störrisches Beharren in ihr entdecken. Man kann aber auch konzedieren, dass bis zum Beweis des Gegenteils Vorsicht der bessere Ratgeber als mutiges Aufheben der Restriktionen sei.
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Und da ist die Kanzlerin eben auf der sicheren Seite. Denn was wäre, wenn in Folge einer Lockerung der Zurückhaltung zwar die Lebensfreude erkennbar steigt, aber mit ihr auch die Zahl der Neuinfektionen?
Was ist, wenn wir es dann nicht mehr nur noch mit einzelnen Hotspots der Krankheitsausbrüche zu tun bekommen, sondern mit einer Welle, die unsere Kliniken überfordert und die furchtbare Vision jener Zustände am Horizont erscheint, wie wir sie in Norditalien oder im Osten Frankreichs gesehen haben?
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Wer diese Kanzlerin und ihre öffentlichen Auftritte der vergangenen Jahre verfolgt hat, konnte nichts anderes erwarten. Sie hat ihre Position glaubwürdig und für ihre Verhältnisse mit Leidenschaft vorgetragen. Das hatte schon etwas protestantisches, dieses: Ich stehe hier, ich kann nicht anders.
Und sie hat endlich, viel zu spät, erkennen lassen, dass Deutschland in Europa, in der Europäischen Union, zu deutlich höheren Beiträgen bereit ist. Sie nahm damit ihren Kritikern, die ihr gegenüber den ärmeren EU-Staaten eine egoistische Politik vorwerfen, ein wenig den Wind aus den Segeln.
Und wer will schon ihrem Schlussappell widersprechen, dass keine Regierung anordnen kann, was nur die Bürger selbst leisten können: Zusammenzuhalten in Zeiten der Krise. Das aber sagt eben auch: Nicht der Staat, nicht die Kanzlerin, nicht die Regierung – wir selbst entscheiden am Ende, wie wir aus dieser Zeit der Herausforderung herauskommen.