Sommertour der Bundeskanzlerin: Merkel besucht ihre Wahlkampfversprechen
Erst der Altenpfleger, jetzt die Frau mit Down-Syndrom: Die "Retterin der freien Welt" will auf ihrer Sommertour zeigen, dass sie sich um die Sorgen der Menschen kümmert. Mit Nebenwirkungen für Horst Seehofer.
Wahlkampfschulden sind Ehrenschulden, deshalb ist in der Mittagszeit plötzlich ziemlicher Auftrieb bei der Caritas in Köln-Kalk. Dabei hatte es eher beiläufig angefangen. „Vielleicht schaue ich mal vorbei“, hatte Angela Merkel vor einem Dreivierteljahr zu der jungen Frau mit Down-Syndrom gesagt. Merkel stand mit dem Mikrofon mitten in der ARD-„Wahlarena“, Natalie Dedreux saß im Publikum und wollte von der Kanzlerin wissen, wieso man Babys mit ihrer Behinderung noch bis kurz vor der Geburt abtreiben darf. „Ich will nicht abgetrieben werden, sondern auf der Welt bleiben!“, hatte die junge Frau gesagt und langen Beifall bekommen.
Am Mittwoch strahlen Dedreux und ihr Gast um die Wette wie zwei alte Bekannte. Merkel hat sowieso keine Berührungsängste; sie ist mit behinderten Kindern aufgewachsen, die im Pfarrhaus nebenbei mit betreut wurden, weil die DDR-Behörden sich nicht um sie kümmerten. Ihre 19-jährige Gastgeberin ist ein Beispiel dafür, wie es anders geht. Sie arbeitet im „Café Querbeet“ der Caritas, außerdem in der Redaktion des „Ohrenkuss“, ein Magazin von, aber ausdrücklich nicht nur für Menschen mit 47 statt 46 Chromosomen im Erbgut.
Am Donnerstag geht es zur Milchbäuerin nach Schleswig-Holstein
Ehrenschulden zahlt man zügig, sobald es eben geht. Vor der Berliner Sommerpause war daran nicht zu denken – Sondierung, Koalitionsverhandlung, Horst Seehofer, Donald Trump. Dafür arbeitet Merkel jetzt zügig die ganze Liste ab. Am Montag war Ferdi Cebi im Paderborner St. Johannisstift an der Reihe – der Altenpfleger hatte sich in einer anderen Wahlkampfsendung über miese Bezahlung und Dauerüberlastung beklagt.
An diesem Donnerstag bekommt Ursula Trede den versprochenen Kaffeebesuch. Die Bäuerin aus dem holsteinischen Nienborstel hatte Merkel vor Fernsehpublikum mit der Frage nach dem aktuellen Milchpreis in leichte Verlegenheit gebracht. Der Preis ist immer noch unten. Wenn er da bleibt, hat der Hof der Tredes mit seinen 140 Milchkühen nach Jahrhunderten im Familienbesitz keine Zukunft.
Beantworten Sie die Fragen und machen Sie mit bei der Aktion "Deutschland spricht"
Wahlkampfschulden abzugelten ist trotzdem eine angenehme Pflicht, lässt sich doch damit zeigen, dass eine Kanzlerin sich kümmert. Das kommt ihr gerade besonders zupass. Eine Schlussfolgerung aus dem enttäuschenden Wahlergebnis lautete schließlich, dass es gut und schön ist, wenn die Regierungschefin als „Retterin der freien Welt“ gefeiert wird, dass den Leuten aber ihre Alltagssorgen mindestens genauso wichtig sind.
Seehofers Kurs wirkt: Plötzlich machen sich wieder alle Sorgen wegen der Flüchtlinge
Doch diese Sorgen sichtbar in den Mittelpunkt zu rücken, hat im Moment noch eine ganz spezielle Nebenwirkung. Das liegt an Horst Seehofer. Vier Wochen lang haben der CSU-Chef und seine Hintersassen aller Welt einzureden versucht, dass die Bundesbürger gerade nichts dringender quäle als die Befugnisse der Bundespolizei an drei bayerischen Grenzposten. Am Mittwoch kann man in der jüngsten Analyse der Demoskopen aus Allensbach für die FAZ nachlesen, dass das insofern erfolgreich war, als sich plötzlich wieder so viele Menschen „große Sorgen“ über die Flüchtlingssituation machen wie zuletzt im Winter 2015/16.
Erfolgreich im Sinn der eigenen Sache war die Aktion freilich nicht. Die Allensbacher Umfrageforscher bestätigen nur, was auch andere Kollegen ermitteln: 2,5 Prozent minus für CDU und CSU, dafür zwei Prozent plus für die AfD.
Bei der CDU waren sie schon vorher überzeugt, dass es nichts nützt, die Menschen auf die Bäume zu jagen. Im Konrad-Adenauer-Haus bereiten sie gerade eine kleine Sommerpausenkampagne unter dem Motto „Anpacken für Deutschland“ vor. Die Ehrenschuldentour der Chefin setzt dafür den Ton: mehr Geld für Pfleger, mehr tun für das platte Land, mehr tun dafür, dass Behinderte einen Platz in der Gesellschaft finden.
Natalie Dedreux wird das als Echo auf ihre Wortmeldung gerne hören. Neulich war die engagierte junge Frau in Berlin bei einem Grünen-Workshop. Hinterher bekannte sie im „Ohrenkuss“: „Ich bin jetzt Fan von den Grünen.“ Man darf auf die nächste Ausgabe also neugierig sein.