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Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ist in ihrer Flüchtlingspolitik zunehmend isoliert.
© Jens Wolf/dpa

Flüchtlinge: Merkel allein in Europa

Die Bundeskanzlerin hat kurz vor dem EU-Gipfel zur Flüchtlingspolitik kaum noch Unterstützer. Was kann sie in Brüssel noch erreichen?

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Kurz vor dem entscheidenden Gipfel der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union an diesem Donnerstag und Freitag ist Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) mit ihrer Flüchtlingspolitik weitgehend isoliert.

Merkel will in Brüssel erreichen, dass zumindest mittelfristig ein Teil der in der Türkei ankommenden Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien auf EU-Staaten verteilt wird. Dafür soll die Türkei, die derzeit mit 2,7 Millionen Menschen die meisten Flüchtlinge beherbergt, die unkontrollierte Weiterreise von Migranten in Richtung EU durch bessere Grenzkontrollen unterbinden. Dieser Plan ist nun mehr als fraglich.

Nachdem am Wochenende der französische Premierminister Manuel Valls die Aufnahme weiterer Flüchtlinge kategorisch abgelehnt hatte, wollen sich heute die sogenannten Visegrad-Staaten (Ungarn, Polen, Tschechien und die Slowakei) in Prag gegen die deutsche Flüchtlingspolitik absprechen. Sie wollen Mazedonien zur Schließung seiner Grenze zu Griechenland bewegen, um somit die Zuwanderung von Flüchtlingen über die Balkanroute zu stoppen. Etwa 2000 Flüchtlinge und Migranten setzen nach UN-Angaben jeden Tag mit Booten aus der Türkei nach Griechenland über und schlagen sich auf der Balkanroute nach Norden durch, vor allem nach Deutschland.

„Wir streben eine Vereinbarung zwischen den Visegrad-Staaten an, dass wenn Griechenland nicht funktioniert – und es funktioniert nicht – es mehr Sinn macht, Geld in den Schutz der Grenzen zwischen Griechenland und Mazedonien, Bulgarien und andere Länder zu investieren“, sagte der slowakische Ministerpräsident Robert Fico.

Griechenland könnte zum Nadelöhr werden

Eine Folge der Grenzschließung wäre möglicherweise, dass sich eine wachsende Zahl von Menschen in Griechenland staut. Das könnte das ohnehin angeschlagene Land völlig ins Chaos stürzen. Davor hat Ministerpräsident Alexis Tsipras bereits gewarnt. Merkel und Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) wollen das trotz allen Ärgers darüber, dass Griechenland Verpflichtungen als Schengen-Außenstaat nicht erfüllt hat, auf jeden Fall verhindern.

US-Außenminister John Kerry nannte die Flüchtlingskrise eine „nahezu existenzielle Bedrohung“ für Europa. Die USA wollten Europa dabei nicht allein lassen, sagte er bei der Sicherheitskonferenz in München. Deshalb wolle Washington die Nato bei der Überwachung der Außengrenze unterstützen. Kerry lobte Merkel zudem für ihren „großen Mut“, so vielen Flüchtlingen inmitten der „schlimmsten humanitären Krise in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg“ zu helfen.

Merkels Koalitionspartner CSU sieht ihre Forderung nach einem Kurswechsel bestätigt. Eine europäische Lösung der Flüchtlingsfrage sei „faktisch gescheitert“, hieß es aus der Partei.

Zum Problem für Merkel wird nun vor allem die Haltung Frankreichs. Es war fast schon ein Affront gegen die Bundesregierung, als Frankreichs Premierminister Manuel Valls am Samstag am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz seine Ansage machte: „Frankreich hat sich bereit erklärt, 30 000 Flüchtlinge aufzunehmen. Dazu sind wir bereit, aber nicht zu mehr“, sagte Valls. Er stellte zudem klar, seine Regierung sei gegen ein dauerhaftes System zur Umverteilung von Flüchtlingen innerhalb Europas. „Jetzt ist es an der Zeit, das umzusetzen, was wir ausgehandelt haben“, sagte der Premierminister. Dies seien unter anderem die Kontrolle der Außengrenzen der EU und der Aufbau von Registrierungszentren für Flüchtlinge in Griechenland und Italien.

Paris fürchtet den Zorn des Wahlvolks

Das undiplomatische „Non“ hat vor allem einen Grund. Die sozialistische Regierung fürchtet nach den Anschlägen islamistischer Terroristen massiven Widerstand der Bevölkerung gegen die Aufnahme mehrheitlich muslimischer Flüchtlinge. Dabei steht sie unter erheblichem Druck des rechtspopulistischen Front National, der bei den Regionalwahlen im Dezember 27 Prozent der Stimmen holte. 2017 stehen in Frankreich Präsidentschaftswahlen an. Trotzdem besteht in der Bundesregierung die Hoffnung, dass das letzte Wort noch nicht gesprochen ist – auch weil, so ein EU-Diplomat, „Valls sich möglicherweise innenpolitisch gegen Hollande in Stellung bringen wollte“. Womöglich sei der Präsident anders als sein Premierminister zu Zugeständnissen in der Flüchtlingsfrage bereit.

Außenminister Steinmeier und Wirtschaftsminister Gabriel haben allen sozialdemokratischen EU-Regierungschefs, Außenministern und Parteivorsitzenden einen Brandbrief geschrieben. Darin wird den Osteuropäern einerseits ein Angebot gemacht. „Wir sind bereit, zusätzliche Maßnahmen an den Binnengrenzen Europas zu ergreifen, die eine bessere Kontrolle und ein effektiveres Management der Flüchtlingsströme ermöglichen“, schreiben beide SPD-Politiker. Aber dann folgt die klare Warnung auch an Parteifreunde in Europa. „Für uns alle aber sollte dabei die unabdingbare Voraussetzung sein: Solche Maßnahmen müssen gemeinsam vereinbart werden, und sie dürfen nicht einseitig gegen einen Mitgliedsstaat gerichtet sein.“

Der Ärger ist sehr groß, dass sich die Osteuropäer nicht nur bei der Aufnahme von Flüchtlingen verweigern, sondern mit Griechenland auch noch einen anderen EU-Staat ins Chaos stürzen könnten. „Man kann nicht einfach Europas Außengrenzen neu definieren, und das noch über den Kopf betroffener Mitgliedstaaten hinweg“, warnen Steinmeier und Gabriel deshalb. Offen werfen sie den Osteuropäern vor, das Klima in der EU mit dem Vorschlag des Ausschlusses Griechenlands aus dem Schengen-Raum zu vergiften.

Merkel gehen die Trümpfe aus

Der Kanzlerin bleiben nur Argumente. Sie wird voraussichtlich zweigleisig fahren: Einerseits wird sie, wie es in ihrem Umfeld heißt, den Unwilligen klarzumachen versuchen, wohin deren Nein führen könnte – etwa zu dauerhaften nationalen Grenzkontrollen und damit de facto einem Ende der Freizügigkeit von Personen- und Warenverkehr in Europa, was die europäische Wirtschaft der Kommission zufolge rund sieben Milliarden Euro im Jahr kosten könnte: „Wird ein Prozess in Gang gesetzt, der die ökonomische Integration und das ordnungsgemäße Funktionieren der Wirtschafts- und Währungsunion gefährdet, könnten die Kosten mittelfristig dramatisch höher liegen.“ Sie warnt, niemand solle sich Illusionen machen, dass die Flüchtlingskrise ein rein deutsches Problem sei. Scheitere der passfreie Schengen-Raum, weil die EU ihre Außengrenzen nicht sichern könne, dann wirke sich das negativ auf den Binnenmarkt aus. Ein wirtschaftlicher Einbruch würde gerade die EU-Staaten treffen, die sich mühsam aus der Rezession wieder nach oben arbeiten.

Andererseits schart Merkel erneut eine „Koalition der Willigen“ um sich. Wie schon beim Dezember-Gipfel lädt der Wiener Bundeskanzler Werner Faymann erneut in die Brüsseler Vertretung Österreichs ein – auch der türkische Premier Ahmet Davutoglu wird wieder mit von der Partie sein. Merkels Plan dazu ist bekannt: Wenn die Türkei, wie im Aktionsplan mit der EU vereinbart, die Grenzsicherung intensiviert, also letztlich häufiger das Ablegen von Flüchtlingsbooten verhindert, soll ein Teil der dann im Land verbleibenden Flüchtlinge direkt und auf legalem Wege nach Europa geholt werden, die sogenannten Kontingente. Da in der zurückliegenden Woche auf Merkels Betreiben schon ein Nato- Einsatz zur EU-Grenzsicherung in der Ägäis auf den Weg gebracht wurde, könnte es nun schon um konkrete Zahlen gehen.

Entscheidend dabei ist natürlich, welche Länder zu den Willigen gezählt werden können. Im Dezember waren das neben Deutschland Finnland, Schweden, Portugal, Griechenland, Slowenien und die drei Beneluxländer. Frankreichs Präsident François Hollande hatte sich damals von seinem Europaminister vertreten lassen – angeblich aber nur aus Termingründen. mit chz/has/hmt/rtr

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