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Politische Krise mit Auswirkungen auf Europa. Afghanische Flüchtlinge am 21. August an der afghanisch-iramischen Grenze in Sistan-Balochistan.
© imago images/ZUMA Wire

Konfliktfeld Migration: Menschliche Flüchtlingspolitik hilft allen

Was Europa tun kann, um seinen Werten gemäß zu handeln. Ein Vorabdruck.

Der nachfolgende Text bildet – hier leicht gekürzt – das Einleitungskapitel von Gesine Schwans in diesen Tagen erscheinendem Buch „Europa versagt. Eine menschliche Flüchtlingspolitik ist möglich" (S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2021. 144 Seiten, 16 €.“ (Mitarbeit: Malisa Zobel).

Am 20. Juli 1957 schaute ich zusammen mit meiner französischen Freundin Claudette Caze im Auditorium Maximum der Freien Universität Berlin den polnischen Film „Die letzte Etappe (Ostatni Etap)“ an. Wir waren beide 14 Jahre alt. Die Regisseurin Wanda Jakubowska hatte diesen dokumentarisch inszenierten Spielfilm über Auschwitz gedreht, wo sie selbst von 1942 bis zur Evakuierung 1945 interniert gewesen war. Der Film hat mich tief verstört und meine politische Haltung für immer geprägt. Die ganze Nacht konnte ich nicht schlafen. Ich sah die nächtliche Szene des Innenhofs von Auschwitz vor mir, auf dem Hunderte von Häftlingen bei Minusgraden von 20 Grad stehend die Nacht verbringen mussten.

Sie lehnten sich dicht aneinander und schwankten rhythmisch leicht hin und her, um diese Tortur möglichst gemeinsam zu überleben. Einige Jahre später erfuhr ich vom Schicksal des Schiffes St. Louis. Auf diesem Schiff der Reederei Hapag wollten nach der Reichspogromnacht 1938 937 jüdische Deutsche von Hamburg nach Kuba und in die USA auswandern. Sie hatten dafür auch zumeist gültige Papiere. Sie wurden aber – bis auf wenige Ausnahmen in Kuba – nicht vom Schiff gelassen.

Auch Kanada gab sich hartleibig

Der deutsche Kapitän des Schiffes, Gustav Schröder, bat Präsident Roosevelt persönlich, die Passagier*innen in die USA einreisen zu lassen – vergeblich. Der Präsident, der die Erlaubnis erteilen wollte, beugte sich dem Druck seiner Demokratischen Partei, von denen Teile drohten, ihn bei der Wahl 1940 nicht mehr zu unterstützen. Auch der damalige kanadische Ministerpräsident lehnte ab. Das Schiff musste nach Europa zurückkehren, erhielt schließlich in Belgien die Landerlaubnis, und die Passagier*innen wurden von Antwerpen aus in die Niederlande, nach Frankreich und nach Großbritannien verteilt.

Nur diejenigen, die dort aufgenommen wurden, waren ihres Lebens sicher, wenn sie auch wiederum interniert wurden. Auf alle anderen wartete eine furchtbare, zum Teil tödliche, in Auschwitz endende Odyssee.

Wenn die ethischen und rechtlichen Standards, zu denen wir Demokrat*innen uns öffentlich bekennen, selbst in Demokratien, wo es keine Bedrohung an Leib und Leben gibt, missachtet werden, machen wir uns mitschuldig, wenn wir nicht dagegen angehen. Tatsächlich ist eine pragmatische und menschliche Antwort auf die Flüchtlingsschutzkrise am ehesten in den Kommunen mit ihrer aktiven Zivilgesellschaft zu finden. Der Vorschlag, den ich skizziere, ist kein Allheilmittel für die EU-Migrations- und Flüchtlingspolitik. Mir ist bewusst, wie drängend die Probleme auch in anderen Teilen der Welt sind. Wenn im Folgenden von Europa die Rede ist, sind damit die wichtigsten Akteure der Europäischen Union in der Migrationspolitik gemeint: die Europäische Kommission, das Europäische Parlament, der Europäische Auswärtige Dienst und vor allem der Europäische Rat.

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1. Die Europäische Union versagt in der Flüchtlingspolitik, weil sie im Gegensatz zu den von ihr proklamierten Werten handelt.

2. Mit diesem Selbstwiderspruch schaden wir Europäer* innen uns selbst. Wir verlieren nach innen und außen Glaubwürdigkeit und Vertrauen und zerstören unseren sozialen und politischen Zusammenhalt ebenso wie die Grundlage unserer Demokratien. So vergeben wir die Chancen für eine gemeinsame Zukunft, bei uns und im globalen Nord-Süd-Verhältnis.

3. Für eine menschliche Flüchtlingspolitik müssen wir das gegenwärtig leitende Prinzip, Flüchtlinge so weit wie möglich abzuschrecken, zugunsten der Einsicht verabschieden, dass wir Flüchtlingspolitik als Win-win-Strategie gestalten können.

4. Der praktische Weg aus der Sackgasse liegt darin, in einer Koalition der willigen Staaten eine freiwillige Vereinbarung über die Aufnahme von Flüchtlingen zu treffen und positive, auch finanzielle Anreize dafür zu bieten, anstatt alle EU-Staaten unter Androhung von Sanktionen zur „Abnahme“ von Flüchtlingen zu verpflichten.

5. In der Flüchtlingspolitik ist eine Übereinstimmung von langfristigen Interessen und Werten am leichtesten auf der Ebene der Kommune zu erzielen. Hier kann die Abstimmung transparent erfolgen und die Zustimmung der Bürger*innen gewonnen werden. Eine menschliche Flüchtlingspolitik kann hier überdies mit einer erfolgreichen Ausweitung wirksamer Bürger*innenpartizipation verbunden werden, die mit der repräsentativen Demokratie vereinbar ist.

6. Im Einklang mit den UN-Nachhaltigkeitszielen 2030 und der langfristigen kommunalen Integration können „Kommunale Entwicklungsbeiräte“ die Aufnahme von Geflüchteten in ihre Zukunftsplanung für die Kommune integrieren. Die aufnahmebereiten Staaten kooperieren mit den aufnahmebereiten Kommunen bei der dezentralen Ansiedlung der Geflüchteten. Ein Matching-System stimmt die Interessen der Flüchtlinge mit denen der Kommunen ab.

7. Die Finanzierung der Aufnahme erfolgt durch einen „Europäischen Fonds für Kommunale Integration und Entwicklung“, bei dem die aufnahmewilligen Kommunen die Finanzierung der Integration der Flüchtlinge unkompliziert beantragen können und zusätzlich in derselben Höhe eine Finanzierung der Projekte erhalten, die in ihrem Interesse liegen.

Transparenz, Fairness,Vertrauen

8. Menschliche Asylverfahren sind auf Transparenz, Fairness, Vertrauenswürdigkeit und Schnelligkeit angewiesen. Rechtsbeistand und die Anwesenheit der organisierten Zivilgesellschaft sind von zentraler Bedeutung. Unterschiedliche Kategorien von Flüchtlingen brauchen komplementäre Einwanderungs- und Arbeitsregelungen.

9. Menschliche Asylverfahren können in zentralen europäischen Prüfzentren oder auf der nationalen Ebene durchgeführt werden.

10. Flüchtlinge mit Asylberechtigung, mit subsidiärem Schutz und solche, die nicht rückgeführt werden können (Geduldete), sollten nach dem Matching-Verfahren gleichbehandelt werden. Wer definitiv kein Recht auf Asyl hat und auch nicht in alternative – gegebenenfalls temporäre – Bleibeprogramme wechseln kann, muss, möglichst mit finanzieller Unterstützung, rückgeführt werden.

11. Die Sorge vor einem Pull-Effekt auf Flüchtlinge, besonders aus Afrika, kann nur durch einen neuen Blick auf den Nachbarkontinent Europas überwunden werden. Anstelle von illusionärer und inhumaner Abschottung Europas bietet eine partnerschaftliche Kooperation entsprechend den langfristigen Interessen Europas und Afrikas für beide Seiten Chancen.

12. Auf beiden Seiten können dabei Kommunen und der europäische „Ausschuss der Regionen“ eine entscheidende Rolle spielen. Ein „Weiter so“ in der Flüchtlingspolitik ist nicht nur beschämend und inhuman, sondern zerstört auch die Chancen von Europas Zukunft, von Demokratie und Frieden. Was uns damit entgeht, sind Lebenssinn und Freude.

Gesine Schwan

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