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Der Attentäter zwischen Polizisten.
© Yann SCHREIBER / AFP

Tatverdächtiger aus Halle: Menschen töten und sich selbst leidtun

Während seiner Morde offenbart der Tatverdächtige von Halle, welche rechtsextremen Vorbilder er hat - und ein Bild von gekränkter Männlichkeit. Ein Gastbeitrag.

Veronika Kracher ist freie Publizistin und Referentin mit den Themenschwerpunkten Feminismus, Antisemitismus, Alt-Right und Incels.

Ein mit Schusswaffen und Granaten ausgestatteter, 27 Jahre alter Neonazi aus Sachsen-Anhalt versucht in die Synagoge von Halle an der Saale einzudringen. Sein Ziel ist es, die mehr als 70 Gläubigen, die sich dort zum Gebet versammelt haben, zu ermorden. Als der Plan misslingt, tötet er willkürlich zwei Menschen. Auf seinen Helm hat er ein Smartphone montiert: Die Tat wird live auf dem Streaming Portal twitch.tv übertragen. Das Video verbreitet sich innerhalb von kürzester Zeit - vor allem auf eingängigen rechten Seiten wie kiwifarms, 4chan, und dessen deutschsprachigem Ableger kohlchan. Es offenbart die verstörende Ideologie eines neuen Typus von Rechtsterrorimus.

Die Aufnahme beginnt mit einem Statement, das er auf Englisch vorträgt: "Hallo, mein Name ist Anon, und ich glaube, der Holocaust hat nie stattgefunden. Feminismus ist Schuld an der sinkenden Geburtenrate im Westen, die die Ursache für die Massenimmigration ist - und die Wurzel dieser Probleme ist der Jude." Juden sind in seiner Logik Schuld an dem "Großen Austausch". Damit schlägt er sowohl in die Kerbe des Christchurch-Attentäters Brenton Tarrant, der sein Manifest so betitelt hatte, als auch der Identitären Bewegung, die auch in Halle ansässig ist und, wenn auch in weit elitärerem Jargon, ebenfalls vor der "Umvolkung" warnt. 

In der Idee vom "Großen Austausch" fließen Antisemitismus, Antifeminismus und Rassismus in eins: Juden tragen Schuld daran, dass Frauen sich dem Feminismus zuwenden, und sind dafür verantwortlich, Migranten nach Europa zu transportieren.

Doch nicht nur die Ideologie teilt sich der Täter von Halle mit Tarrant oder Anders Breivik, der mit seinem als Einzeltäter durchgeführten Anschlag auf Utoya zum großen Vorbild des neuen Rechtsterroristen-Typus avanciert ist. Tarrant und auch der Attentäter von El Paso, der im August dieses Jahres 22 Menschen in einem rassistisch motivierten Anschlag erschoss, haben ihre Taten live im Internet übertragen. Und wie die Täter von Christchurch, El Paso oder dem antisemitischen Anschlag auf die Synagoge in Poway, Kalifornien, im April 2018, publizierte der Täter von Halle ein Manifest, in dem er seine Planungen, seine Waffenauswahl und seine Motivation darlegt. Es ist, ähnlich wie bei Tarrant, gespickt mit Anspielungen auf die Online-Kultur von „chan“-Boards.

Rechter Terror als Computerspiel inszeniert

Teil des Manifests ist eine Liste mit so genannten "Achievements", also "Errungenschaften", wie es sie in Videospielen zu erreichen gilt. Auch der Livestream evoziert den Charakter eines Ego-Shooters. Es gibt Seiten, auf denen Listen mit "Highscores" geführt werden: Welcher Täter hat die meisten Menschen umgebracht? Brenton Tarrants veröffentlichter Livestream wurde von seinen Zuschauern mit zynischen Aussagen wie "Knack den Highscore!" kommentiert.

Es ist die "Gamification of Terror". Terrorismus wird zu einer Art kompetitiven Spiel erhoben. Wer die meisten Menschen erschießt, gewinnt. Ähnlich wird es im Internet kommentiert: Der Täter sei ein "Noob", also ein Neuling, weil er "nur" zwei Menschen ermordet hat. Andere User auf kohlchan oder 4chan spinnen sich die Verschwörung einer "False Flag-Aktion" zusammen, also einer bewussten Täuschung, da der Täter so stümperhaft gehandelt hätte. Die Betrachtung dieses Livestreams, dessen Ästhetik man aus "Let’s Play"-Videos auf Youtube kennt, macht es paradoxerweise einfach, sich von der Tat zu distanzieren - obwohl man dabei zusieht, wie jemand erschossen wird.

Die Umstände der Tat legen nahe, dass der Täter von Halle kein organisierter Neonazi war. Hätte er sich in den Kreisen von Gruppen wie "Ostkreuz" oder "Combat 18" bewegt, hätte er wohl über bessere Waffen verfügt. Vieles weist darauf hin, dass er zwar als Einzeltäter agiert, aber hinter ihm eine Armada aus Online-Neonazis, ideellen Vorbildern und ein allgemeiner gesellschaftlicher Rechtsruck steht. Dass er sein Publikum auf Englisch adressiert hat, offenbart, dass seine Aufnahme auf internationale Besucher von Online-Foren abzielte. Im Video und im Manifest verwendete Worte stammen ebenfalls aus dem Vokabular der Internet-Rechten und der Alt-Right-Bewegung. Durch den Livestream erhebt sich der Täter für einen Moment zu einer Art Youtube-Star.

Gewalt als Resultat von gekränkter Männlichkeit

Und ein weiterer Aspekt fällt auf: Der Täter von Halle tituliert sich in seinem Livestream wiederholt selbst als "Loser" (Versager). Auf dem Weg zum Dönerladen, in dem er sein zweites Opfer ermorden wird, entschuldigt er sich gar bei seinen Zuschauern: "Ich habe versucht ein paar Juden umzubringen, und jetzt bin ich hier, und dann werde ich sterben wie der Versager, der ich bin", erklärt er. An anderer Stelle: "Verkackt. Was willst du erwarten von einem NEET?" Im englischsprachigen Raum ist NEET ein Akronym für "Not in employment, education, or training" ("Nicht in Ausbildung, Arbeit oder Schulung").

Auch bei anderen rechten Anschlägen, zeigte sich bei Tätern häufig das Bild eines permanent gekränkten Mannes, der sich von jedem, der ihm nicht gleicht - also nicht gleicher ethnischer Abstammung, nicht männlich, nicht heterosexuell ist - bedroht fühlt. Und dieser Bedrohung versucht, durch Gewalt und Terror Herr zu werden. Durch den Anschlag wäre der Attentäter wohl im eigenen Verständnis kein „Loser“ mehr gewesen, sondern in der rechten Szene zu einem Helden stilisiert worden.

Gewalt wird so zur Wiedergutmachung einer durch Frauen, Migranten und einer imaginierten jüdischen Übermacht vermeintlich erfahrenen Kränkung. In der Echokammer des Internets erhält man von allen Seiten Bestätigung für diese Ideologie - und das, ohne den eigenen Sessel verlassen zu müssen. Es ist zwingend notwendig, diesen neuen Typus von Rechtsterrorismus und das Internet als Propaganda- und Rekrutierungsinstrument des Rechtsradikalismus, der auf Boards wie kohlchan vertreten wird, als Gefahr ernst zu nehmen. Der Kampf dagegen muss mehr sein als ein Lippenbekenntnis, er muss konsequent geführt werden: auch online.

Veronika Kracher

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