Russischer Menschenrechtsorganisation droht Verbot: „Memorial“ ist das moralische Gewissen des Landes
Sie steht der Geschichtsverdrehung von Präsident Putin im Weg - und kümmert sich zudem um politische Gefangene. Daher soll sie schweigen. Ein Kommentar.
Vor 30 Jahren, nach dem Ende der Sowjetunion ist im Zentrum Moskaus auf dem Platz vor der berüchtigten Geheimdienstzentrale Lubjanka das Denkmal von Felix Dserschinski vom Sockel gestürzt worden. Der Begründer der Tscheka, des sowjetischen Repressionsapparates, verschwand in der Verbannung.
Ganz in der Nähe wurde stattdessen ein tonnenschwerer dunkler Stein aus unbearbeitetem Granit von der Gefängnisinsel Solowki platziert, dem Ort, an dem das furchtbare Gulag-System seinen Anfang nahm. Der Monolith wurde zum Symbol für den erklärten Willen des neuen Russlands, die Erinnerung an ein dunkles Kapitel der Geschichte wachzuhalten, die Verbrechen aufzuarbeiten und nicht mehr den Tätern ein Denkmal zu setzen, sondern den Opfern.
Die mächtigste Institution, die sich in diesem Sinne auf die Suche nach der historischen Wahrheit begibt, soll jetzt zerstört werden. Ein Moskauer Gericht verhandelt am Donnerstag den Antrag der russischen Generalstaatsanwaltschaft, die Organisation „Memorial“ zu verbieten, eine Organisation, die in den 30 Jahren ihrer Arbeit zum moralischen Gewissen Russlands geworden ist.
Der Vorwurf: Die Organisation verstoße gegen Strafrechtsparagrafen, weil sie es mehrfach unterlassen hatte, bei Aktivitäten in den Medien darauf hinzuweisen, dass sie als „ausländischer Agent“ eingestuft worden war.
Vor sechs Jahren lehnte ein Gericht den Verbotsantrag ab - heute wohl kaum
Das entsprechende Gesetz soll jegliche Kritik am Kreml unter den unmittelbaren Verdacht stellen, vom feindlichen Ausland finanziert worden zu sein. Zudem soll „Memorial“ Extremisten und Terroristen unterstützen, weil sich die Organisation für Oppositionelle einsetzt. Vor sechs Jahren gab es einen solchen Verbotsantrag schon einmal, damals wies ihn das Gericht zurück. Diesmal stehen die Chancen schlechter. Der Kreml hat seither seine Repressionen gegen die Zivilgesellschaft verschärft.
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„Memorial“ ist in der Endphase der Sowjetunion gegründet worden, um die Verbrechen der Stalin-Zeit zu dokumentieren. An ihrem Beginn standen Persönlichkeiten wie Andrej Sacharow und Sergej Kowaljow, die selbst jahrelang Repressionen ausgesetzt waren. Millionen Opfern des stalinistischen Terrors gab „Memorial“ ihre Würde zurück. Für deren Angehörige war die Nichtregierungsorganisation oft die einzige Informationsquelle, die ein ehrendes Gedenken erst ermöglichte.
In allen Regionen Russlands beteiligten sich Zehntausende an der Erforschung der Vergangenheit, protokollierten Aussagen der Überlebenden, sammelten Dokumente in den aufgelösten Lagern und den Archiven des Geheimdienstes – so lange diese zugänglich waren. Sie organisierten Ausstellungen, Konferenzen, veröffentlichten Bücher. Millionen Russen finanzierten die Arbeit mit ihren Spenden.
Die russische Staatsmacht hat es längst aufgegeben, die Geschichte der Repressionen systematisch aufzuarbeiten. Gleichzeitig beansprucht der Kreml erneut die vollständige Deutungshoheit über die sowjetisch-russische Vergangenheit. Zivilgesellschaftliches Engagement ist unerwünscht. Es ist sogar, wie der Antrag der Staatsanwaltschaft zeigt, ein Straftatbestand.
Im Russland von Präsident Wladimir Putin geht es nicht mehr um die Aufarbeitung von Verbrechen, sondern um deren Rechtfertigung. Um der offiziellen Sicht wieder Geltung zu verschaffen, hat die Staatsanwaltschaft im vergangenen Jahr eine eigene Abteilung für die Verteidigung der historischen „Wahrheit“ gegründet.
Inzwischen geht sogar Putin selbst unter die Autoren, um seine Sicht auf den Hitler-Stalin-Pakt und die Identität von Russland und der Ukraine in Essayform zu verbreiten. Dabei geht es um die Wiederbelebung der alten sowjetischen Erzählung.
„Memorial“ ist daher ein permanenter Angriff auf das Geschichtsbild des ewigen Tschekisten Putin. Doch was die Organisation in den Augen der Machthaber besonders suspekt macht: Es ging nie um Geschichte allein. „Memorial“ wuchs während des zweiten Tschetschenienkrieges um die Jahrtausendwende zur zentralen Institution der russischen Zivilgesellschaft.
„Memorial“ hat die Gräuel des Feldzuges der russischen Armee akribisch dokumentiert, sich für die Opfer von Übergriffen eingesetzt und nach den Verschleppten und Leichen gesucht, die ohne Beerdigung auf Friedhöfen verscharrt wurden. Es war eine lebensgefährliche Arbeit. Die „Memorial“-Aktivistin Natalja Estemirowa, die die Arbeit in Tschetschenien mutig leitete, wurde 2009 ermordet.
"Memorial" unterstützt auch die politischen Gefangenen, die es offiziell nicht gibt
Seit 2008 führt „Memorial“ auch eine Liste der politischen Gefangenen in Russland. Die gibt es nach offizieller Lesart jedoch gar nicht. Putin behauptet es immer wieder: Niemand sei aus politischen Gründen verurteilt, sondern für „Gesetzesverletzungen“. Wenn die Gesetze so geschrieben werden, dass Opposition zur Straftat wird, dann gibt es – allerdings nur formell – keine politischen Gefangenen mehr.
„Memorial“ wird von Anklägern verfolgt, die sich längst nicht mehr schämen, die Erben der sowjetischen Sicherheitsorgane zu sein. Es ist kein Zufall, dass Russlands Geheimdienst FSB seine offizielle Geschichte nicht mit dem Jahr 1991 und dem Zusammenbruch der UdSSR beginnt, sondern sie faktisch bruchlos auf das Jahr 1918 zurückführt – in einer geraden Linie von Tscheka über die Staatssicherheitsbehörden OGPU, NKWD und KGB.
„Memorial“ zeigt den heutigen Angehörigen der Sicherheitsorgane immer wieder, wie sehr sie ihren Vorgängern ähneln. Das soll nun offensichtlich ein Ende haben.
Russland hat sich seit dem Ende der Sowjetunion im Kreis bewegt: vom Totalitarismus zum Totalitarismus. Doch der Versuch, mit den traditionellen Methoden staatlicher Säuberungen gegen missliebige Organisationen vorzugehen und sie auszulöschen, wird nicht funktionieren.
„Memorial“ hat in den vergangenen Jahrzehnten gigantische Arbeit geleistet. Die Archive mag der Staat wieder schließen, die von „Memorial“ gesammelten Akten, Fotos und Filme mag er requirieren.
Der Staat mag sogar das Denkmal Dserschinskis vor der Lubjanka wiedererrichten und den schwarzen Stein von der Gefängnisinsel zurück in die Verbannung schicken, wie das seit geraumer Zeit diskutiert wird. Doch vieles ist im Netz gespeichert und wird in zahlreichen Online-Foren diskutiert. Das ist jederzeit abrufbar. Die Geschichte lässt sich heute nicht mehr einfach umschreiben.