zum Hauptinhalt
Zum Jahrestag der Entführung der Mädchen protestieren in der nigerianischen Hauptstadt Abuja diese Männer und Frauen gegen die Untätigkeit der Regierung.
© dpa

Die Spur der Gewalt von Boko Haram: Mehr als 200 Mädchen in Nigeria seit einem Jahr vermisst

Nigeria gedenkt der Entführung von mehr als 200 Mädchen vor einem Jahr. Dass sie noch immer nicht gefunden und befreit wurden, ist auch eine Bankrotterklärung der Regierung.

Die Terroristen kamen im Schutz der Dunkelheit: Dutzende schwer bewaffneter Islamisten der Terrormiliz Boko Haram rollten in der Nacht zum 15. April 2014 in einem Konvoi aus Bussen und Lastern in den kleinen Ort Chibok im Nordosten von Nigeria. Offenbar fuhren sie direkt zum Mädcheninternat, wo die schlafenden Schülerinnen von Gewehrsalven geweckt wurden. Augenzeugen berichteten später, dass die Terroristen das Internat stürmten, mehrere Gebäude in Brand steckten und 270 völlig verängstigte Schülerinnen in ihre Fahrzeuge trieben, um mit ihnen in die Morgendämmerung zu verschwinden. Einigen der Entführten gelang während des Abtransports oder kurz danach die Flucht. Doch 219 Mädchen bleiben bis heute vermisst.

Dass der Überfall weltweit für Schlagzeilen sorgte, lag nicht nur am brutalen Vorgehen der Terroristen und der hohen Opferzahl, auch wenn die Geiselnahme damals die bislang größte im Kampf der Islamisten gegen die Zentralregierung in Abuja war. Was viele Nigerianer und die Welt vor allem empörte, war die Apathie und Gleichgültigkeit, mit der die Machthaber reagierten: Mehr als drei Wochen vergingen bis Staatschef Goodluck Jonathan erstmals Stellung zu der Entführung nahm. Und er musste zugeben, dass weder seine Regierung noch das Militär wüssten, wo sich die Mädchen befänden, und deshalb auch nichts zu ihrer Rückführung unternommen hätten.

Viele Beobachter sprachen daraufhin fassungslos von einer Bankrotterklärung der Regierung. Noch nie, so hieß es, sei der Bevölkerung die Unfähigkeit der eigenen Elite derart drastisch vor Augen geführt worden. Das Versagen trug entscheidend zur Niederlage Jonathans bei der Präsidentenwahl vor zwei Wochen bei. Am Dienstag erklärte sein Nachfolger Muhammadu Buhari, dass er eine Rückkehr der Schülerinnen nicht garantieren könne. „Ich kann nicht versprechen, dass wir sie finden.“ Er werde aber alles tun, was in seiner Macht steht. Mit Mahnwachen, Gebeten und Versammlungen wurde am Dienstag in Nigeria und weltweit an die Massenentführung erinnert.

Bis heute ist der Fall ungeklärt. Die wenigen Augenzeugen, die die Mädchen in den vergangenen zwölf Monaten gesehen haben wollen, sprechen davon, dass fast alle inzwischen zwangsverheiratet seien. Doch wo sie sich aufhalten, weiß keiner. Sicher ist nur, dass die Entführten inzwischen auseinander gerissen worden sind, sagt Abdulkadir Alkasim vom Nigeria Security Network, einer unabhängige Beobachtergruppe. Allgemein wird angenommen, dass die meisten Terroristen mit ihren „Ehefrauen“ vor einer kürzlich begonnenen Offensive der Regierung an die Grenze zu Kamerun geflohen sind.

Amnesty weist auf wachsende Brutalität des Vorgehens von Boko Haram hin

Pünktlich zum ersten Jahrestag der Entführung hat nun die Menschenrechtsorganisation Amnesty International (AI) am Dienstag einen 90 Seiten dicken Jahresbericht zu Nigeria veröffentlicht, der darauf verweist, dass Tausende von Frauen in Nigeria ein ganz ähnliches Schicksal wie die Mädchen von Chibok erlebt hätten. Seit Beginn der Terrorkampagne von Boko Haram im muslimischen Norden vor sechs Jahren sind demnach schätzungsweise 15000 Menschen getötet worden. Seit Beginn des vergangenen Jahres will Amnesty International dabei eine ganz neue Qualität der Gewalt erkennen: die Angriffe seien nun besser organisiert, weit häufiger als zuvor – und entsprechend viel höher auch die Opferzahlen, heißt es in dem Bericht.

Gefangen genommene Frauen werden einer Gehirnwäsche unterzogen

Von Anfang 2014 bis März 2015 ist nach Angaben von Amnesty die Ermordung von mindestens 5500 Zivilisten durch Boko Haram dokumentiert – darunter rund 2000 Frauen und Mädchen. Der Bericht schildert ihr Schicksal drastisch: Nach ihrer Gefangennahme durchlaufen die meisten Frauen ein straff organisiertes System: Zunächst werden sie nach ihrem Alter getrennt. Ein großer Teil von ihnen werde für den Kampf ausgebildet Anschließend käme es zu einer monatelangen Gehirnwäsche und schließlich bei einem Übertritt zum Islam zur Zwangsehe. Wer sich weigere, die Religion zu wechseln, werde erschossen. Berichten von Gefangenen zufolge, die entkommen konnten, werden bereits Kinder im Vorschulalter zum Arbeiten angehalten oder als Kämpfer eingesetzt. Erst zu Beginn dieses Jahres wurde ein siebenjähriges Mädchen von Boko Haram als Selbstmordattentäterin eingesetzt.

Wolfgang Drechsler

Zur Startseite