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Die britische Premierministerin Theresa May am Freitag im ostenglischen Grimsby.
© Christopher Furlong/dpa
Update

Brexit: May fordert EU zu Zugeständnissen auf

Eine erneute Ablehnung des Brexit-Deals am Dienstag im Unterhaus ist wahrscheinlich – auch wenn die EU am Freitag einen raffinierten Vorschlag machte.

Wenige Tage vor einer entscheidenden Brexit-Abstimmung im Unterhaus hat die britische Premierministerin Theresa May am Freitag ganz bewusst die 88.000-Einwohner-Stadt Grimsby als Ort für ihre jüngste Rede zum geplanten EU-Austritt Großbritanniens ausgesucht. In der Region rund um die ostenglische Hafenstadt hatte sich beim Brexit-Referendum vom Juni 2016 eine überwältigende Mehrheit von mehr als 70 Prozent für einen Exit aus der EU ausgesprochen. „Wir tragen die Verantwortung, diesem Land den Brexit zu liefern, für den das Volk gestimmt hat“, sagte die Premierministerin mit Blick auf die bevorstehende Unterhaus-Abstimmung.

May hofft immer noch, dass sie am kommenden Dienstag im Parlament eine Mehrheit für den EU-Austrittsvertrag erzielen kann. Die Arbeiter in Grimsby, vor denen sie in einer Lagerhalle auftrat, dienten ihr gewissermaßen als Kronzeugen für einen geregelten Brexit. Falls Großbritannien entgegen dem Votum vom Juni 2016 doch nicht die EU verlassen sollte, werde dies dem Vertrauen der Bevölkerung in die Demokratie einen „schweren Schaden“ zufügen, erklärte die Premierministerin.

Die Regierungschefin hatte am Freitag aber nicht nur eine Botschaft für die Menschen in Grimsby mitgebracht. Gleichzeitig warnte sie die EU vor den Folgen einer Ablehnung des Austrittsabkommens. Falls die Abgeordneten den Deal ablehnten, dann werde dies einen „krisenhaften Moment“ heraufbeschwören, erklärte die Regierungschefin. „Es braucht nur noch einen kleinen Schritt, um zu einem Abschluss zu kommen“, sagte May. Ihre Botschaft Richtung Brüssel lautete also sinngemäß: Wenn sie im Unterhaus scheitert, dann ist auch die EU dafür verantwortlich.

Damit hat inzwischen das „Blame game“ begonnen – also jenes politische Spiel, bei dem es bereits vorsorglich um die Schuldzuweisung für den Fall geht, dass May wie bereits im Januar im Unterhaus eine Schlappe erleidet. Dass dieser Fall eintritt, ist in den vergangenen Tagen zunehmend wahrscheinlich geworden.

Die Gespräche zwischen EU-Chefunterhändler Michel Barnier, dem britischen Brexit-Minister Stephen Barclay und Generalstaatsanwalt Geoffrey Cox hatten am vergangenen Dienstag keine Annäherung gebracht. May hatte eigentlich darauf gesetzt, dass bei den Last-Minute-Gesprächen vor der Abstimmung am Dienstag noch Veränderungen an der umstrittenen Nordirland-Regelung herausspringen, mit denen die Hardliner in den Reihen der konservativen Regierungspartei zur Zustimmung bewegt werden können.

Allerdings sind die Positionen der EU und Großbritanniens in dieser Frage weiterhin unvereinbar. Die Unterhändler aus London hatten vorgeschlagen, dass ein Schiedsgericht bei der Nordirland-Regelung darüber entscheiden könnte, wann der so genannte Backstop enden könnte. Die EU lehnte eine solche Lösung allerdings ab. Der Backstop ist eine Notfall-Lösung, der zufolge Nordirland im EU-Binnenmarkt bleiben soll, bis eine dauerhafte Handelsvereinbarung zwischen beiden Seiten geschlossen ist. Damit soll verhindert werden, dass eine „harte Grenze“ zwischen dem EU-Staat Irland und dem britischen Nordirland entsteht.

Barniers neuer Vorschlag wurde schon einmal abgelehnt

Am Freitag trug Barnier einen neuen Vorschlag vor – hinter dem sich im Ergebnis jedoch ein alter verbirgt, den May bereits abgelehnt hatte. Die EU gebe Großbritannien „die Option zu einem einseitigen Austritt“ aus der Zollunion, schrieb Barnier am Freitag im Kurzbotschaftendienst Twitter. „Das Vereinigte Königreich wird nicht gegen seinen Willen in die Zollunion gezwungen.“ Die anderen Elemente des sogenannten Backstops müssten aber bestehen bleiben, um eine harte Grenze zwischen Irland und Nordirland zu verhindern, erklärte der EU-Unterhändler.

Barnier gehe mit dem Vorschlag eines einseitigen Ausstiegs zurück auf den ursprünglichen EU-Vorschlag, dass nur Nordirland in einer Zollunion mit der EU bleibe und nicht das gesamte Vereinigte Königreich, sagte ein EU-Diplomat. Dies hatte Premierministerin Theresa May aber abgelehnt, weil dann Grenzkontrollen zwischen Nordirland und dem Rest des Vereinigten Königreichs in der irischen See nötig wären.

Barniers Vorschlag bedeute, dass es „jetzt keine Grenze in der irischen See geben“ werde, hieß es aus EU-Kreisen. „Eine künftige britische Regierung kann aber entscheiden, dass es sie gibt.“ Nordirland werde dabei „in jedem Fall anders behandelt“ als der Rest des Vereinigten Königreichs. Klar sei aber weiter, dass der mit der EU ausgehandelte Austrittsvertrag „nicht verändert“ werde.

Wohl keine Mehrheit für ein No-Deal-Szenario

Für den weiteren Verlauf des Brexit-Dramas gibt es nun mehrere denkbare Szenarien. Im – aus der Sicht von May – besten Fall würde es der Premierministerin trotz aller Bedenken der Brexiteers doch noch am kommenden Dienstag im Unterhaus gelingen, eine Mehrheit für den Austrittsvertrag zu organisieren. Selbst in diesem Fall müsste May die EU allerdings um eine kurzfristige Verlängerung über das Brexit-Datum vom 29. März hinaus bitten. Der Grund: Für die Verabschiedung der nötigen Begleitgesetze im Unterhaus wird mehr genug Zeit benötigt.

Sollte May am kommenden Dienstag keine Mehrheit erhalten, dann wird es voraussichtlich am Mittwoch zu einer Abstimmung über einen ungeregelten Brexit kommen. Es gilt als sehr unwahrscheinlich, dass ein No-Deal-Brexit im Unterhaus eine Mehrheit findet. Im Fall der erwarteten Ablehnung des No-Deal-Szenarios werden die Abgeordneten voraussichtlich am Donnerstag darüber abstimmen, ob Großbritannien bei den verbleibenden 27 EU-Staaten eine Verlängerung der Brexit-Frist über den 29. März hinaus beantragen soll. Eine Mehrheit dafür gilt als wahrscheinlich.

Frist einer möglichen Verlängerung ist offen

Unklar ist allerdings, ob die Brexit-Frist gegebenenfalls lediglich um wenige Monate – etwa bis Ende Juni – oder für einen längeren Zeitraum verlängert werden soll. Sollte Letzteres eintreten, müsste Großbritannien in jedem Fall an der Europawahl teilnehmen – ein Szenario, das auf beiden Seiten des Ärmelkanals für Stirnrunzeln sorgen dürfte.

Einerseits dürfte den Brexiteers auf der Insel eine neuerliche Teilnahme an den Wahlen zum Straßburger Parlament kaum zu vermitteln sein. Andererseits würden die Europaabgeordneten aus den verbleibenden 27 EU-Staaten wohl wenig Verständnis dafür haben, dass die Briten zwar die EU verlassen, aber gleichzeitig bei den bevorstehenden Entscheidungen über den nächsten Kommissionschef und die nächste EU-Finanzperiode noch dabeisein sollen. (mit dpa, AFP)

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