Zu Ostern: Martenstein über die Nächstenliebe
Harald Martenstein denkt über christliche Wurzeln nach. Als erstes kommt ihm dazu Ulrich Tukur in den Sinn. Warum? Eine Kolumne.
Zu Ostern denken sogar Kulturchristen und Halbheiden wie ich über ihre christlichen Wurzeln nach. Mir fällt dazu als Erster der Schauspieler Ulrich Tukur ein. Er hat in einem Interview gesagt, dass er für Dieter Wedel Mitleid empfindet. Wedel sei kein Monster. Kein Mensch sei ein Monster. Dem Regisseur Wedel werden zahlreiche Übergriffe gegen Schauspielerinnen vorgeworfen. Von Wedels mutmaßlichen Taten hat sich Tukur distanziert. Trotzdem wird Tukur scharf angegriffen. Weil er Mitleid aufbringt, für so einen.
Christen sehen einen Unterschied zwischen dem Verbrechen, das sie verurteilen, und dem Verbrecher, der ein Mitmensch bleibt. Sie hassen den Sünder nicht. Sie sind nicht gegen Strafen. Aber sie lassen dem Sünder, der bereut, einen Rückweg offen. Diese Botschaft ist weit entfernt von der Kultur des Shitstorms. Massenhaft laufen Leute herum, die Hass und Wut für eine moralische Haltung ausgeben. Sie irren sich. Ein Mensch, der auf dem elektrischen Stuhl sitzt und zu Tode gequält wird, hat in diesem Moment nur Mitleid verdient, egal, was er getan hat.
Auf dem Wahlplakat trägt sie einen Schleier - und wird dafür angefeindet
Die zweite Person, die mir zu Ostern einfällt, heißt Aygül Kilic. Sie ist Mitte 50, hat drei Kinder und arbeitet in Schleswig-Holstein in einer Kita. Sie kandidiert bei der Kommunalwahl für die FDP, auf dem Wahlplakat trägt sie einen weißen Hijab, einen Schleier. Deshalb werden sie und ihre Partei heftig angefeindet.
Auch Beatrix von Storch, AfD, hat ihren Senf dazu gegeben, den ich nicht zitieren werde. Kilic ist inzwischen erkrankt, sie kann sich nicht äußern. Ich hoffe, dass sie gewählt wird. Für das, was man von Migranten zu Recht verlangt, Integrationsbereitschaft, ist sie ein gelungenes Beispiel. Man kann ihr nichts, wirklich nichts vorwerfen, weder religiösen Fundamentalismus, für den die FDP nicht die richtige Partei wäre, noch ein altertümliches Verständnis von Geschlechterrollen, noch das Leben in einer Parallelgesellschaft oder Plünderung der Sozialkassen. Sie macht von ihrem Recht auf freie Religionsausübung Gebrauch, das ist alles und so selbstverständlich, dass darüber jedes Wort zu viel wäre. Wer Kilic anfeindet, dem geht es nicht um Debatten, die geführt werden müssen – etwa die Frage, ob eine Richterin verschleiert sein darf. Es geht da nur um Abneigung gegen alles Andersartige.
Beatrix von Storch ist in ihrer toleranzfreien Haltung deutlich näher am Islamismus als die Liberale Aygün Kilic. Auf das christliche Erbe dieses Landes kann Storch sich nicht berufen, dafür steht eher Ulrich Tukur.