Europäische Zentralbank und Eurozone: Mario Draghi schafft Billionenflop
Die deutsche Furcht vor Verlusten aus dem 1000-Milliarden-Programm der EZB ist irrational. Viel schlimmer ist: Das Geld kommt nicht dort an, wo es gebraucht wird. Ein Essay.
Selten sind die Inhaber höchster europäische Ämter in Deutschland derart wütend kritisiert worden wie Mario Draghi und seine Kollegen im Rat der Europäischen Zentralbank. Kaum hatten sie vorvergangene Woche beschlossen, dem wirtschaftlichen Niedergang der Eurozone mit dem Ankauf von Staatsanleihen im Billionenumfang zu begegnen, entzündeten deutsche Politiker, Lobbyisten und Ökonomen ein wahres Sperrfeuer der Kritik.
Der Beschluss sei ein „Dokument des Versagens“, zürnte Hans Michelbach, Obmann der Union im Finanzausschuss des Bundestages. Die EZB gehe ein „unkalkulierbares Risiko“ ein, warnte Reiner Holznagel, Präsident des Steuerzahlerbundes. Es handele sich um „eine Vergemeinschaftung der Haftung für Staatsschulden“, begründete CSU-Vize Peter Gauweiler eine eilig angekündigte Verfassungsklage. Das EZB-Programm sei „unsolide“ und „illegal“, protestierte Hans-Werner Sinn, der Chef des Münchner ifo-Instituts.
Grundlage für diese und viele ähnliche Vorwürfe ist die Annahme, der Kauf der staatlichen Schuldtitel gehe „zulasten der Steuerzahler, die für die Verluste der EZB aufkommen müssten“, wie es Sinn formulierte. Sogar Jens Weidmann, Präsident der Bundesbank und selbst ernannter Widerständler im EZB-Rat, hatte schon vor dem Beschluss gewarnt, mit den Staatsanleihekäufen werde „faktisch eine Gemeinschaftshaftung“ etabliert und die Risiken zwischen den verschiedenen Ländern umverteilt. Deutsche Steuerzahler würden dann zum Beispiel für die gekauften italienischen Anleihen mithaften.
Das ist sie, die ultimative Drohung, mit der deutsche Nationalkonservative schon seit Beginn der Krise die Ängste der Bürger schüren: Erst kaufen die Hüter des Euro die faulen Anleihen der überschuldeten Südeuropäer, und dann müssen die armen deutschen Steuerzahler dafür geradestehen, wenn die Zentralbank damit Verluste macht und ihr das Kapital ausgeht. Das klingt plausibel – und ist doch grundfalsch. Die deutsche Staatskasse wird keinen Cent an die EZB bezahlen müssen, selbst dann, wenn die Notenbanker das eingesetzte Geld nie wiedersehen.
Verluste, für die niemand bezahlen muss? Ja, das widerspricht jeder Alltagserfahrung. Aber eine Zentralbank ist eben keine Bank. Vielmehr handelt es sich um eine Aufsichtsbehörde für das Zahlungssystem, die das Recht hat, Geld in der ihr anvertrauten Währung zu schaffen. Zwar betreiben auch die Währungshüter eine ordentliche Buchhaltung. Doch ihre Bilanz ist nur eine Fiktion. Auf der Passivseite, dort wo bei richtigen Banken die Zahlungsverpflichtungen aus Schulden und Einlagen der Kunden stehen, vermerkt die Zentralbank neben einigen „Sonderposten“ das von ihr in Umlauf gebrachte Bargeld und die Einlagen auf den Konten, die Banken bei ihr unterhalten müssen. Darauf buchen sie das Zentralbankgeld, das die Banken sich bei der EZB leihen, um liquide Mittel zu haben. Im Gegenzug müssen sie Wertpapiere als Sicherheit hinterlegen. Zahlen die Banken zurück, verschwindet das Geld dort, wo es herkam: im Nichts.
Sie machen keine Schulden und gehen keine Zahlungspflichten ein
Wenn also die EZB und die angeschlossenen 19 nationalen Zentralbanken nun für 50 Milliarden Euro pro Monat Staatsanleihen kaufen, dann schöpfen sie das dafür nötige Geld einfach elektronisch per Tastendruck. Sie verbreitern die sogenannte Geldbasis und erzeugen zusätzliches Zentralbankgeld – jenes Geld also, mit dem Banken untereinander ihre Forderungen ausgleichen. Aber sie machen keine Schulden und gehen keine Zahlungspflichten ein, auch dann nicht, wenn die erworbenen Papiere an Wert verlieren. Insofern sei die Zentralbank vergleichbar mit einem Alchemisten, der aus Stroh Gold spinnt und damit teure Waren kauft, schrieb Norbert Häring, Finanzexperte beim Handelsblatt. Selbst wenn die Waren die Hälfte ihres Wertes verlieren, würde der Alchemist nicht bankrottgehen. Nur wäre sein Gewinn eben nur noch halb so groß.
Die Furcht, die Eurostaaten müssten dereinst die EZB retten wie die Pleitebanken nach dem Lehman-Crash, geht also fehl. Tatsächlich sind derlei Zahlungspflichten auch nirgendwo rechtlich festgelegt. Sollte die EZB Verluste erwirtschaften, so heißt es im Artikel 33 ihrer Satzung, „dann kann der Fehlbetrag aus dem allgemeinen Reservefonds der EZB und erforderlichenfalls nach einem entsprechenden Beschluss des EZB-Rates aus den monetären Einkünften des betreffenden Geschäftsjahres … gezahlt werden, die … an die nationalen Zentralbanken verteilt werden“. Wohlgemerkt: kann, nicht muss. Und selbst dann fallen lediglich die Gewinnauszahlungen an die Mitgliedsländer aus.
Damit sind die Geldgewaltigen im Frankfurter Eurotower allerdings ohnehin knauserig. Seit 1999 haben sie 600 Milliarden Euro an Gewinn angehäuft, der sich vor allem aus dem Bewertungszuwachs auf Gold- und Devisenreserven ergab, wies der kundige EZB-Beobachter Häring nach. Das ist mehr als ein Viertel der derzeitigen Bilanzsumme des Eurosystems von 2,1 Billionen Euro. Selbst gigantische Verluste, wie sie etwa bei einer Staatspleite in Italien anfallen würden, könnten also rein rechnerisch ausgeglichen werden. Und sogar, wenn die Verluste alle Reserven überschreiten würden, müsste kein deutscher Steuerzahler bluten. Die EZB könnte, genau wie jede andere Zentralbank, auch ganz ohne das Eigenkapital funktionieren, das die Eurostaaten dort pro forma gebucht haben, konstatierten EZB-Ökonomen schon 2004.
Darum spotten internationale Experten längst über die deutschen Verlustängste. Die Vorstellung, die EZB-Käufe von Staatsanleihen würden Steuerzahler „für Verluste haftbar machen“, sei zwar „das generell akzeptierte Narrativ unter vielen deutschen Ökonomen, aber es ist falsch“, schreibt etwa Paul de Grauwe, Währungsexperte an der London School of Economics. Eigentlich sei „zu erwarten, dass deutsche Zentralbanker und Ökonomie-Professoren die Natur der Geldpolitik in einer Währungsunion verstehen“, wundert sich de Grauwe. Daher sei es überraschend, dass sie „einen Mythos geschaffen haben, der in Deutschland irrationale Angst gegen ein geldpolitisches Instrument schürt, das in den meisten entwickelten Nationen als bewährtes Verfahren gilt“. Unter Wissenschaftlern kommen solche Sätze einer öffentlichen Ohrfeige gleich.
Die Zinsen auf Staatsschulden sind in allen anderen Eurostaaten höher
Umso verblüffender scheint, dass sich der EZB-Rat auf die deutsche Irrationalität eingelassen hat. Um sie zu besänftigen, sollen 80 Prozent der rund eine Billion Euro schweren Käufe nur auf Rechnung der nationalen Zentralbanken gebucht werden, sodass diese nur die Anleihen des eigenen Staates kaufen, das Italienrisiko also den Deutschen erspart bleibt. Das ergibt zwar wenig Sinn, weil die Ländernotenbanken über das Eurosystem auf Gedeih und Verderb miteinander verflochten sind. Aber dafür entgeht der Bundeskasse ein großer Batzen Geld. Denn die Zinsen auf Staatsschulden sind in allen anderen Eurostaaten höher.
Die Portugiesen etwa zahlen für die 10-Jahres-Anleihe 2,1 Prozent mehr als die Deutschen, in Italien sind es 1,4 Prozent. Die Zinsen für die jeweils erworbenen Anleihen überweisen die Regierungen jetzt aber nur an ihre eigene Notenbank. Die damit erzielten Gewinne werden also nicht mehr über den Gemeinschaftstopf der EZB nach dem Schlüssel der jeweiligen Anteile verteilt, sondern fließen direkt an die jeweiligen Staatskassen zurück. Allein vom Zinserlös aus den zum Ankauf vorgesehenen italienischen Anleihen entgehen der Bundesbank und damit der Bundeskasse ab 2017 vorsichtig gerechnet eine halbe Milliarde Euro jährlich. So macht Mario Draghi mit dem symbolischen Heftpflaster für die Deutschen seinem Ruf als Schlawiner alle Ehre. Sein Heimatland bekommt einen Zuschlag, und die Deutschen dürfen trotzdem nicht meckern.
All das wäre nur Folklore, wenn das zugrunde liegende Problem nicht so ernst wäre. Die Wirtschaft in der Eurozone stagniert seit Jahren, viele Millionen Menschen sind arbeitslos, eine halbe Generation junger Leute von Lissabon bis Athen verliert den Anschluss. Und jetzt fiel die Inflationsrate sogar unter null. Das mag Verbraucher freuen, ist aber volkswirtschaftlich höchst riskant.
Bei sinkenden Preisen steigt der Wert von Schulden. So nimmt die Verschuldungsquote der Eurostaaten sogar dann zu, wenn ihre Haushalte ausgeglichen sind. Zudem fahren die Unternehmen ihre Investitionen noch mehr zurück. Niemand investiert, wenn er fürchten muss, dass seine Produkte in Zukunft weniger einbringen. Das erklärte „Inflationsziel“ der EZB von „unter zwei Prozent“ ist ja keine willkürlich gesetzte Marke, sondern der Sicherheitspuffer, um Deflation, also eine Abwärtsspirale von sinkenden Preisen, Löhnen und Investitionen, gar nicht erst entstehen zu lassen.
Insofern erfüllen die Hüter des Euro nur ihr Mandat, wenn sie jetzt dagegenhalten, indem sie eine Billion Euro auf die Finanzmärkte schleusen. Umso dringender aber müssen sich Draghi und seine Kollegen die Fragen stellen lassen, warum sie es überhaupt so weit haben kommen lassen, und ob ihr Programm dazu taugt, den Niedergang noch zu stoppen. Schließlich ist die drohende Deflation durch falsche Politik systematisch herbeigeführt worden.
Wie falsch dieser Kurs war, illustriert der Vergleich mit den USA
Dabei standen Draghi, Weidmann und ihre Kollegen Seite an Seite mit der Regierung Merkel, als diese durchsetzte, dass alle Staaten der Eurozone gleichzeitig ihre Defizite durch Kürzung der Ausgaben und Erhöhung der Steuern ausgleichen. Kritiker hatten von Anfang an gewarnt, dieser Kurs führe geradewegs in die Deflation, solange viele Eurostaaten die Rezession infolge des Crashs von 2008 noch nicht überwunden hatten, und auch die privaten Haushalte und Unternehmen sparen mussten. Wenn aber alle Sektoren einer Volkswirtschaft gleichzeitig sparen, also mehr einnehmen als ausgeben, führt das unvermeidlich zur wirtschaftlichen Schrumpfung. In den Krisenländern des Südens erhoben die EZB-Gewaltigen die Deflation sogar zum Programm. Im Rahmen des Troika-Regimes gemeinsam mit der EU-Kommission und dem Internationalen Währungsfonds erzwangen sie nicht nur Etatkürzungen, sondern gleich auch noch massive Lohnsenkungen und nannten das dann „interne Abwertung“.
Wie falsch dieser Kurs war, illustriert der Vergleich mit den USA. Auch dort stützte die Notenbank mit Wertpapierkäufen im Billionenmaßstab die Konjunktur. Aber gleichzeitig hielt die Regierung ihre Ausgaben auf hohem Niveau und operierte fünf Jahre lang mit Defiziten zwischen neun und zwölf Prozent der Wirtschaftsleistung. So gelang es, den massiven Ausfall der Nachfrage zu kompensieren, der mit der Entschuldung der privaten Haushalte nach dem Platzen der Immobilienblase einherging. Seit 2010 erzielte die US-Wirtschaft so Wachstumsraten von 1,8 bis 2,8 Prozent, die Arbeitslosigkeit halbierte sich. In der Folge stieg zwar die Staatsschuldenquote auf 100 Prozent, aber mit einer Wirtschaft auf Wachstumskurs kann die Obama-Regierung gelassen bleiben. Das Defizit schrumpft von allein.
In der Eurozone dagegen steht zu erwarten, dass das Billionenprogramm der EZB erneut wirkungslos verpufft. Es bringt einfach nichts, 1000 Milliarden Euro in den Finanzsektor zu schleusen, wenn die Unternehmen das billig verfügbare Geld nicht für Investitionen nutzen. Wenn es an Nachfrage mangelt, nützt es nichts, das Angebot auszuweiten. Wollten die Eurolenker tatsächlich tun, „was immer nötig ist“, um den Euro zu retten, wie Draghi versprach, dann müssen sie endlich ihre monetäre Allmacht für den richtigen Zweck einsetzen. Möglich – und durchaus legal – wäre es zum Beispiel, ein paar hundert Milliarden Euro der gebunkerten Gewinne früherer Jahre an die Staatskassen zu überweisen, um damit Investitionsprogramme zu finanzieren. Möglich wäre es auch, den Vorschlag des neuen griechischen Finanzministers Yanis Varoufakis aufzugreifen, statt Staatsanleihen solche der Europäischen Investitionsbank zu kaufen. Diese könnte das Geld gezielt in den Krisenländern einsetzen, um dort den Wiederaufbau zu finanzieren. Das sind die Fragen, über die es mit Draghi und dem EZB-Rat zu streiten gilt. Die gefühlten Verluste deutscher Nationalökonomen zählen nicht dazu.