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Dialekte in der öffentlichen Wahrnehmung: Man spricht nur noch Hochdeutsch – warum?

Mit den Dialekten ist es in der deutschen Öffentlichkeit, medial und politisch, nämlich sehr merkwürdig bestellt. Die Zeit der großen Mundartregenten scheint vorbei zu sein. Ein Kommentar.

Helmut Kohl, bevor er zum historischen Einheitskanzler wurde, galt wegen seines heimatlichen Idioms lange Zeit als Provinzler. Als „der Pfälzer“. Elias Canetti, der Literaturnobelpreisträger, hat seine wohl persönlichste Gedankensammlung, seine „Flohsprünge“ des Geistes, „Die Provinz des Menschen“ überschrieben. Der Titel meint, in Fortführung von Canettis Studie über „Masse und Macht“, das ureigene Reservat jedes Einzelnen: seine Menschlichkeit – und auch Unmenschlichkeit.

An Kohl, die Provinz und die Sprache habe ich (mit einem Flohsprung) kürzlich beim „Tatort“ denken müssen. Die Folge hieß etwas verstiegen „Der Himmel ist ein Platz auf Erden“ und war von 2015, also eine sommerliche Wiederholung, aber ich hatte ihn noch nicht vorher gesehen. Oder vergessen. Denn bei der Kriminaldauersendung deutscher TV-Programme mit ihren fast immer ähnlichen Strickmustern lassen sich Reprisen von Premieren kaum mehr unterscheiden, höchstens fallen mal die älteren Handymodelle auf. Jedenfalls schien auch bei dieser Folge zunächst alles wie gewohnt: eine Leiche, die eben noch Sex gehabt hatte (als sie noch keine war), dann die Spusi, die Pathologen vom Dienst, dazu eine ältere Kommissarin und ihr jüngerer Kollege — das Schema F.

Gleich biegt Loddar Maddäus um die Ecke

Und doch nicht ganz. Der Ort war Nürnberg, und bei der Polizei und im gesellschaftlichen Drumherum sprach man ein wunderbar derbes Fränkisch. So fränggisch, als würde in dem wohlanständigen Villenvorort, wo es, apropos Kohl, aussah wie in Oggersheim und wo in deutschen Krimis die üblichen Verdächtigen wohnen, gleich Loddar Maddäus um die Ecke biegen.

Dieser „Tatort“ war in der ersten Stunde, bevor er doch konventionell vertriefte, durch Sprache und Dialogwitz absolut herausragend. Das lag auch am Pingpong der Worte, Blicke und kleinen Gesten zwischen den kommissarischen Protagonisten Dagmar Manzel und Fabian Hinrichs. Warum die beiden hochdeutsch sprechenden Superschauspieler aus Berlin gerade in der sehr dialektstarken Frankenmetropole gelandet sind, blieb zwar ein „Tatort“-Rätsel. Doch für die gebürtige Ost-Berliner Diva (ja: Diva, aber uneitel!) und für den aus Hamburg stammenden, extrem geisteshellen Volksbühnen-Star hatte Regisseur und Autor Max Färberböck zumindest kleine Ost-West-Fährten gelegt. Sie aber waren die Ausnahmen. Und das bringt diese Kolumne zum flohspringenden Punkt.

Mit den Dialekten ist es in der deutschen Öffentlichkeit, medial und politisch, nämlich sehr merkwürdig bestellt. Die Zeit der großen Mundartregenten scheint vorbei zu sein. Adenauer rheinisch, Erhard fränkisch, Strauß bayrisch, Kiesinger badisch, Brandt brandtsonor, Schmidt hanseatisch, Kohl, alle passé. Seit Schröder und Merkel herrscht Hannover-Meckpomm, ein ordentliches, preußisches Nordhochdeutsch. Selbst Boris Becker, der Leimener Neckarpfälzer, klingt inzwischen fast schon britisch. Letzter Volldialektler mit deutscher Weltpräsenz bleibt so Jogi Löw, und des muss au sein, wenigschtens!

Schon bei den Nazis war Sächsisch verpönt

Klar, Bayern stehen, ob als Politiker oder Fernsehschauspieler, unter Naturschutz, der Beckenbauer-Seehofer-Wachtveitel-Sound geht immer. Es darf auch mal eine Spur Schwäbisch, Hessisch, Hanseatisch sein. Oder richtig Kölsch? Das kaum noch, Adenauer oder Millowitsch sind von gestern, und Podolski übt jetzt Japanisch. Was mir indes — nach über einem Vierteljahrhundert Wiedervereinigung — auffällt: Sächsisch geht gar nicht. Nicht in der Bundespolitik (Genscher hatte noch seinen verwandten Hallenser Unterton) und nie im Fernsehen, in keinem TV-Krimi. Die quotenstarke „SOKU Leipzig“ zum Beispiel hat keinen Hauch von sprachlichem Lokalkolorit.

Schon bei den Nazis war Sächsisch, die Sprache von Leibniz, Reclam, Wagner, Nietzsche, Karl May und Erich Kästner, verpönt (Hitler wollte sich seinen Wagner, May oder Nietzsche nicht als Sachsen vorstellen). In der DDR durften Kabarettisten lange kein Sächsisch sprechen, weil man das als Parodie auf Walter Ulbricht verstehen konnte. Auch höhere Funktionäre sollten Sächsisch meiden, obwohl der gebürtige Saarländer Erich Honecker seinem fistelnden Vorgänger am Ende stimmlich immer ähnlicher wurde. Und jetzt: Pegida– und NSU-Verdacht? Warum gilt Sächsisch im wiedervereinigten Deutschland als peinlich? Zur Provinz des deutschen Menschen gehört diese Mundart doch dazu, mit all ihrem Witz und manchmal Dumpfbackigem, das sie mit anderen Idiomen teilt.

Peter von Becker

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