Ein Traumatherapeut über die Anschläge in Paris: "Man braucht jetzt Menschen, die nicht weinend vom Stuhl fallen"
Was kann man nach einem solchen Anschlag für die Menschen tun? Wie soll eine Stadt, die in einem Jahr zwei brutale Attentate erlebt hat, weitermachen? Christian Lüdke hat viele Opfer und Angehörige solcher Angriffe betreut. Ein Interview.
Herr Lüdke, aus Sicht eines Traumatherapeuten. Was ist jetzt in Paris zu tun?
Grundsätzlich geht es darum, möglichst schnell Abstand zu bekommen, Ruhe zu finden und vor allem gesicherte Informationen zu erhalten. Informationen geben Sicherheit. Das schlimmste Erlebnis für die Pariser ist jetzt, dass ihr persönliches Sicherheitsgefühl erschüttert ist.
Wer kann in einer solchen Situation Sicherheit vermitteln?
Stabile Personen, das sind jetzt etwa Politiker, Hoheits- und Sicherheitskräfte, aber auch Menschen im privaten Umfeld. Es hört sich vielleicht etwas kühl an, aber was man jetzt braucht sind Menschen wie, sagen wir, ein Helmut Schmidt, der gerade verstorben ist - Menschen, die nicht weinend vom Stuhl fallen. An ihnen können sich andere orientieren, aufrichten.
Aber Frankreich, Paris, erlebt nach den Attentaten rund um die Satirezeitung "Charly Hebdo" jetzt schon zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres mörderische Anschläge. Da ist doch jedes Sicherheitsgefühl endgültig weg.
Wenn wir zunächst vom einzelnen Menschen sprechen, ohne zu verallgemeinern, Menschen, die sozusagen zweimal ein Trauma erlebt haben, dann wäre das jetzt ein starker Risikozustand. Ein Überfall, eine Gewalttat ist schlimm genug, wenn Menschen danach noch ihren Job, ihren Partner oder andere Dinge lieb gewonnene verlieren, kommt die Vortraumatisierung wieder an die Oberfläche. Die normalerweise guten, bei sehr vielen Menschen existierenden Bewältigungsstrategien versagen dann. Das darf jetzt nicht im Übermaß passieren, sonst bricht Panik aus und es kann zu einer chronischen Angststörung kommen.
Alle Menschen in Paris oder in anderen Städten gehören ja zu einer Gemeinschaft, haben eine Identität als Stadt. Was wird daraus?
Die Gruppe entscheidet, wie sie zusammenleben. Das ist eine alte Erkenntnisidee, und dahinter steckt auch der Begriff der Schicksalsgemeinschaft. Das kann eben auch eine unglaubliche Stärke sein, sich jetzt als eine Stadt zu fühlen, wenn auch als eine verletzte, verletzbare, verwundete. Außerdem können die Pariser, diese Schicksalsgemeinschaft, nun sagen: Es war niemand von uns, das waren andere, die gehören nicht zu uns. Umgekehrt wäre es schlimmer. Beziehungstaten sind das schlimmste für Menschen, also Taten, die in der eigenen Familie, hier in der eigenen Gemeinschaft begangen werden. Die Stadt wird enger zusammenrücken, so wie in New York, sie wird nicht auseinanderfallen.
Sie selbst waren bei den Anschlägen vom 11. September 2001 in New York, später haben Sie Opfer und Angehörige auch von anderen Anschlägen betreut. Vermutlich kommen auch bei Ihnen sofort Erinnerungen hoch.
Ich war bei den Anschlägen in New York, zuvor habe ich oft auf dem World-Trade-Center gestanden, dann an dem Tag auch am Ground Zero. Ich arbeitete damals für eine große Deutsche Bank und habe Angehörige und Hinterbliebene betreut, insgesamt 25 Familien. Ich war mit dem FBI unterwegs. Ja, es sind sehr nachhaltige Erinnerungen. Aber auch gute.
Was war gut?
Die Menschen, diese unglaubliche Solidarität, die sie erzeugt haben. Ich bin wahnsinnig oft in den Arm genommen worden, von Polizisten, Feuerwehrleuten, anderen, wildfremden Menschen. Das war ein Zeichen von Nähe, die alle gesucht haben. Fachlich kann ich das gar nicht einordnen, es war eine ungeheure Form der Wertschätzung gegenüber jedem einzelnen Menschen, der da war.
Was macht das mit einem?
Es mobilisiert alle Ressourcen. Und das ist das beste, was passieren kann, mitten im Unglück spürt man Kraft und bekommt eine Ahnung, dass man es schaffen kann.
Damals haben Sie auch für den Tagesspiegel über Ihre Arbeit mit Kindern in New York berichtet.
Viele Kinder sind nach Hause und sofort in das Bett der Eltern oder Großeltern. Für Kinder ist das der sicherste Platz der Welt. Dann haben sehr viele angefangen zu malen und zu zeichnen. Es war bewegend.
Wie redet man jetzt mit Kindern?
Bis zum Alter von drei Jahren gar nicht. Danach, bis zehn, würde ich nur mit ihnen reden, wenn sie aktiv danach fragen. Ab zehn oder danach kann mit Kindern ganz normal und sachlich reden. Auf keinen Fall sollte man aber Verunsicherung zeigen. Mama und Papa sind für Kinder Sicherheitsgaranten, wenn die erschüttert sind, überträgt sich das auch auf sie. Wenn Kinder jetzt fragen, kann das auch bei mir in der Kita passieren, wäre die richtige Antwort: Nein, das ist in Paris passiert, in deiner Kita passiert das nicht.
Es ist eine Lüge, oder?
Nein. Es ist eine Zwischenform der Wahrheit. Sonst entsteht Panik im Kind.
Kann man eigentlich die Auswirkung von Anschlägen, ob in New York oder anderswo, vergleichen?
Ja, das kann man schon. Einen Unterschied gibt es zwischen Anschlägen und Naturkatastrophen. Zwar hat man bei beiden Ereignissen im schlimmsten Fall Angehörige verloren. Aber beim Tsunami ist die Ursache die Natur. Beim Anschlag zermartert man sich das Hirn aufgrund der Sinnlosigkeit der Tat. Das löst Ohnmacht aus und Angst. Auch Wut.
Gibt es natürliche Reflexe?
Es gibt seit der Urzeit an immer die gleichen möglichen Reflexe: Fliehen, kämpfen oder erstarren.
Und wie erstarrt man nicht?
Erstarren ist auf jeden Fall die schlechteste Variante. So banal es klingt: Weitermachen. Denn traumatologisch betrachtet bleibt die Summe aller unserer Ängste immer gleich, was sich verändert, ist die Angstrichtung: Terror, die Kinder, der Job. Immer fokussiert die Angst darauf und wird zu einer Realangst.
Gut, aber konkret, was tun?
Schauen Sie die vielen ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer in den Städten für die Flüchtlinge. Sie zum Beispiel tun etwas, übernehmen Eigenverantwortung, und so haben sie vielleicht die eigenen Ängste vor der Flüchtlingsbewegung überwunden. Das Zauberwort wäre: Menschen stark machen durch Eigenverantwortung. Es gibt immer auch das Gute im Schlechten. Die Bänker in New York haben mir erzählt, sie hatten Todesangst, aber sie haben in diesen Momenten mehr über ihr Leben gelernt als in den 30 Jahren davor. Das Leben, das die Menschen jetzt in Paris führen, wird anders sein, aber nicht schlechter.
Das Leben geht weiter...
Ja, natürlich klingt das banal, aber ja, das muss es. Erst stabilisieren, Ruhe und Abstand gewinnen, nicht auf die schrecklichen Dinge schauen, sich ausmalen, was schön sein kann im eigenen Leben, Dinge tun, die einem guttun. Die Menschen, die nicht unmittelbar betroffen sind, also nicht verletzt sind oder Angehörige, Freunde verloren haben, sind ja nicht krank, sie haben ganz normale Symptome.
Was heißt das, normale Symptome?
Manchen ist übel, andere bekommen Kopfschmerzen, Dritte haben Angst, abends in Berlin auf ein Konzert zu gehen. Man muss ihnen sagen, dass das alles normal ist. Völlig normal. Was dagegen gar nicht normal ist, sind diese Typen mit den Kalaschnikows.
Christian Lüdke, 55, ist klinischer Hypnosetherapeut und Traumatologe. Er hat Opfer und Angehörige unter anderen der Anschläge in New York und Djerba betreut ebenso nach dem Tsunami auf Bali und Fukushima. Er leitet die Firma Terapon, die national und international Opfern von Gewalt und Kriminalität hilft. Gerade hat er das Hörbuch "Wenn die Seele brennt" veröffentlicht, in dem es um die Verarbeitung emotional belastender Ereignisse geht.
Der Autor des Interviews ist Redakteur für besondere Aufgaben im Tagesspiegel. Er hat mit Lüdke seit 2001 zahlreiche Interviews nach Anschlägen und Naturkatastrophen geführt. Folgen Sie Armin Lehmann auch auf Twitter.