Neue Amtszeit mit enormen Herausforderungen: Macron ist der Präsident einer zerrissenen Nation
Die Wahl in Frankreich hat der Liberale für sich entschieden. Nun muss er eine skeptische Jugend und die Benachteiligten von sich überzeugen – doch wie?
Frankreich hat sich entschieden. Der liberale Staatschef Emmanuel Macron hat wie schon 2017 seine rechtsradikale Konkurrentin Marine Le Pen bei der Stichwahl ums Präsidentenamt aus dem Felde geschlagen. Damit kann Macron auch in den kommenden fünf Jahren als Staatschef weiterregieren.
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Der 44-Jährige hat sich für seine nächste Amtszeit, die gleichzeitig seine letzte ist, einiges vorgenommen. Er will das französische Rentensystem reformieren und ein Verhältniswahlsystem für Parlamentswahlen einführen. Zudem wird der Krieg in der Ukraine ihn auch weiter beanspruchen.
Aus der Sicht vieler Wählerinnen und Wähler liegt aber seine wichtigste Aufgabe woanders: Er muss sicherstellen, dass sich die Spaltung der französischen Gesellschaft, die sich unter seiner bisherigen Amtszeit verschärft hat, wieder verringert.
Was folgt aus dem Unmut mit dem System?
Entscheidend könnte ein Erfolg der zweiten Amtszeit Macrons davon abhängen, in wie weit mehr Mitspracherechte für die Bevölkerung verankert werden. Der Präsident lehnt zwar basisdemokratische Referenden nach Schweizer Vorbild ab, wie sie Le Pen im Wahlkampf vorgeschlagen hatte. Dafür will er sich in seinen Reformbemühungen erneut auf die künftige Ausgestaltung der Parlamentswahlen konzentrieren.
Bislang gilt für das französische Parlament das Mehrheitswahlrecht. Die Einführung eines Verhältniswahlrechts für das Parlament gehörte schon beim letzten Wahlkampf 2017 zu den Versprechen Macrons. Umgesetzt wurde es aber nie – was Le Pen dem Amtsinhaber im Fernsehduell in der vergangenen Woche vorgeworfen hatte.
Macron hat angekündigt, in einer zweiten Amtszeit eine parteiübergreifende Kommission einsetzen zu wollen. Diese soll Reformen für die politischen Institutionen erarbeiten. Macron zeigte sich auch offen für die Wiedereinführung einer siebenjährigen Amtszeit. Er stellte jedoch klar, dass dies noch kein Thema für das kommende Mandat sein könne.
Was muss Macron tun, um die Kluft zwischen Jung und Alt zu überwinden?
In Frankreich zeigt sich eine Kluft zwischen den Generationen nicht nur mit Blick auf die politische Haltung, sondern auch bei der Wahlbeteiligung. Das war bereits im ersten Wahlgang vor zwei Wochen deutlich geworden. Erhebungen des Meinungsforschungsinstituts Ipsos zufolge hatten am 10. April 42 Prozent der unter 35-Jährigen einen Kandidaten gewählt, der links von Macron steht. In den anderen Altersgruppen waren es nur knapp 30 Prozent.
Allerdings haben auch viele der Jungen erst gar nicht von ihrem Stimmrecht Gebrauch gemacht. Der Anteil an Nichtwählern unter ihnen liegt bei 44 Prozent und ist damit doppelt so hoch wie im Rest der Gesellschaft.
Angesichts der starken Verankerung von linksgerichteten Kandidaten bei jüngeren Leuten kann man nach dem Wahlsieg Macrons davon ausgehen, dass große Teile der Jugend ihren Forderungen gegenüber dem alten und neuen Präsidenten nun großen Nachdruck verleihen werden. Dazu zählen vor allem strengere Maßnahmen für den Klimaschutz und eine weitaus ausgeprägtere Sozialpolitik.
Die jüngere Generation dürfte dem Staatschef zu verstehen geben, dass er auch ihnen zum Teil seinen Sieg zu verdanken hat. Man könne ja nach der Wahl massive Forderungen an den Präsidenten herantragen – mit diesem Argument wurde in den vergangenen zwei Wochen in den sozialen Netzwerken von Leuten für Macron geworben, die ihm eigentlich nicht nahestehen.
Macron gilt als „Präsident der Reichen“. Wie kann er dies Image zu loswerden?
Macrons Gegenkandidatin Le Pen fand den größten Zulauf unter den Wählern, denen es wirtschaftlich nicht so gut geht. Nach Erhebungen des Instituts Ipsos stimmten im ersten Wahlgang 49 Prozent derer, die sich selbst als benachteiligt bezeichnen, für Kandidaten am rechten Rand. Macron wiederum holte mit Abstand sein bestes Ergebnis bei denen, die sich zur Oberschicht zählen.
Der wiedergewählte Staatschef wird also schnell das Image, nur der „Präsident der Reichen“ zu sein, abstreifen müssen. Ansonsten könnten neue Proteste folgen, die denen der Gelbwesten ähneln. Gerade angesichts der Inflation und steigender Energie- und Lebensmittelpreise ist das Risiko hoch.
Frankreich hat auch ein deutliches politisches Stadt-Land-Gefälle. Auswertungen des französischen Nachrichtensenders Franceinfo zeigen, dass Le Pen im ersten Wahlgang vor allem bei den Wählern in ländlichen Gegenden und Städten punktete, die weit von den großen Metropolen entfernt sind.
Macrons Wählerschaft lebt in den Städten oder den eher wohlhabenden Vororten. Viele Landbewohner haben den Eindruck, vom politischen Geschehen abgeschnitten zu sein. Dass im hochzentralisierten Frankreich der überwiegende Teil der wichtigen Entscheidungen in der Hauptstadt Paris getroffen wird, verstärkt diesen Eindruck.
Welche Rolle spielt Macrons geplante Rentenreform?
Bereits während seiner ersten Amtszeit plante Macron eine Rentenreform. Der Staatschef wusste, worauf er sich damit einließ, denn Rentenreformen sind in Frankreich traditionell ein heißes Eisen. Das musste der damalige konservative Präsident Jacques Chirac erleben, als die Franzosen im Winter 1995 gegen seine Reformpläne massenhaft auf die Straße gingen. Am Ende musste Chirac seine Reform wieder zurückziehen.
Ähnlich wie Chirac will auch Macron den Franzosen eine längere Lebensarbeitszeit abverlangen. 2019 stellte er die Details seiner Reform vor. Demnach sollte das komplizierte französische System mit 42 verschiedenen Regelungen vereinheitlicht und das Milliardendefizit der Rentenkassen abgebaut werden. Besonders umstritten war die faktische Anhebung des Renteneintrittsalters von 62 auf künftig 64 Jahre.
Die Gewerkschaften, voran die besonders streikbereite „Force ouvrière“, antworteten Ende 2019 und Anfang 2020 mit wochenlangen Protesten. Der Pariser Metroverkehr war stark eingeschränkt, etliche Fernzüge fuhren nicht. Touristen machten in dieser Zeit einen Bogen um Frankreich. Macron blies die Rentenreform vorerst ab. Der Beginn der Corona-Pandemie, die ab März 2020 das politische Geschehen dominierte, lieferte ihm einen guten Anlass, um sein Vorhaben erst einmal auf Eis zu legen.
Nach seiner Wiederwahl will Macron allerdings einen erneuten Vorstoß machen. Im Wahlkampf ließ der 44-Jährige keinen Zweifel daran, dass er aufgrund der höheren Lebenserwartung eine Heraufsetzung des Renteneintrittsalters für unausweichlich hält. Gegenwärtig liegt das Renteneintrittsalter bei 62 Jahren.
Die Details seiner gegenwärtigen Reformpläne hat Macron bislang zwar offen gelassen. Es zeichnet sich jedoch ab, dass er das Renteneintrittsalter im Jahr 2028 auf 64 Jahre und im Jahr 2031 auf 65 Jahre heraufsetzen will. Zugleich will er eine Mindestrente von 1100 Euro einführen.
Was ist von den Parlamentswahlen im Juni zu erwarten?
Nach der Wahl Macrons wird der Wahlkampf schnell weitergehen. Denn im Juni finden die Wahlen zur Nationalversammlung statt. Das Präsidentschaftsamt ist zwar mit viel Macht ausgestattet. Doch um Reformen und Gesetzesvorhaben durchzubringen, ist auch in Frankreich die Zustimmung des Parlaments notwendig. Ob Macron erneut eine Parlamentsmehrheit erhält, ist alles andere als klar.
„Der dritte Wahlgang beginnt heute abend“, sagte der Linkspopulist Mélenchon am Sonntagabend nach Bekanntgabe des Wahlergebnisses. Mélenchon hofft, dass die Franzosen nach den beiden Runden der Präsidentschaftswahl bei der Entscheidung über die Nationalversammlung mehrheitlich seiner Partei „Unbeugsames Frankreich“ die Stimme geben und ihn damit zum Premierminister machen.
Eine solche Konstellation wäre pikant. Die Franzosen nennen es „Cohabitation“ („Zusammenleben“), wenn Präsident und Premierminister aus unterschiedlichen politischen Lagern kommen. Das hat es seit Beginn der Fünften Republik 1958 erst drei Mal in Frankreich gegeben: von 1986 bis 1988, von 1993 bis 1995 und von 1997 bis 2002.
Falls es unter Macron zu einer „Cohabitation“ kommt, müsste er seinen Regierungsstil anpassen und sich kompromissbereiter zeigen. Für den Präsidenten, der die Macht bislang monopolisierte und sich der Mehrheit im Parlament sicher sein konnte, wäre dies ein Abschied von seinen politischen Gewohnheiten.