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Saudi-Arabien: Macht und Glaube

Prowestlich nach außen und islamistisch nach innen – ein Stück über die Widersprüche in der saudi-arabischen Politik.

Es gibt kaum einen Staat, über den die Meinungen in Deutschland so weit auseinandergehen wie Saudi-Arabien. Dies zeigte sich zuletzt in der Debatte über die Situation im Irak und Syrien. Einige Kommentatoren sehen in dem Königreich einen wichtigen Unterstützer des Islamischen Staates im Irak und Syrien (ISIS), zu dem Deutschland auf Konfrontationskurs gehen müsse. Andere betonten hingegen, dass Saudi-Arabien zu den entschiedensten Gegnern der Terrororganisation gehöre und als wichtiger Partner auch mit Waffenlieferungen unterstützt werden müsse. Diese Debatte spiegelt die häufig geradezu grotesken Widersprüche der saudi-arabischen Politik und Gesellschaft wider. Der zentralste dieser Widersprüche ist der zwischen einer prowestlichen Außenpolitik, die Saudi-Arabien über Jahrzehnte zu einem der bedeutendsten und verlässlichsten Partner der USA und des Westens im Nahen Osten gemacht hat, und einer ausnehmend islamistischen Innenpolitik, die auf dem althergebrachten Bündnis zwischen der Herrscherfamilie und den Religionsgelehrten der „Wahhabiya“ beruht. Die Vertreter dieser Reformbewegung versuchen mit ungebrochener Energie, das soziale und kulturelle Leben im Königreich ihrer Vision eines goldenen islamischen Zeitalters im 7. Jahrhundert anzugleichen und tragen ihre Reformlehre mit staatlicher Unterstützung in die Welt. Mit dem Ergebnis, dass wahhabitisch-salafistische Bewegungen überall Aufwind verspüren.

Die enge Westbindung Saudi-Arabiens besteht seit dem Ersten Weltkrieg und wurde im Verlauf der nächsten hundert Jahre zu einer Konstante der Weltpolitik. Seit den 1940er Jahren lösten die USA Großbritannien als wichtigsten Partner des Wüstenkönigreichs ab. Während die Supermacht Saudi-Arabien vor der Sowjetunion und anderen Gegnern zu schützen versprach, lieferte das Königreich ab 1945 Öl in immer größeren Mengen.

Das Zweckbündnis zwischen USA und den Saudis bewährte sich in der Krise

Das Zweckbündnis der beiden ungleichen Partner bewährte sich in zahlreichen Krisen, und nur einmal kam es zu einem ernsthaften Zerwürfnis. Der Anlass war der Yom-Kippur- oder Oktoberkrieg 1973 zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn, als Saudi-Arabien versuchte, durch ein Ölembargo gegen die USA und die Niederlande diese Staaten zu bewegen, ihre Unterstützung für Israel aufzugeben. Da die zunächst hohen Ölpreise zu einer weltweiten Rezession und zur Suche nach alternativen Energiequellen führten, sank die Nachfrage so sehr, dass die Ölpreise verfielen und Saudi-Arabien in eine fast zwei Jahrzehnte andauernde Krise stürzte. Die saudi-arabische Führung lernte daraufhin ihre Lektion und wurde zum führenden Vertreter einer gemäßigten Preispolitik unter den Ölförderstaaten und Saudi-Arabien zum verlässlichsten Öllieferanten überhaupt. Doch beschränkte sich die saudi-arabische Zusammenarbeit mit dem Westen beileibe nicht auf die Energiepolitik. Mehrfach setzte das Königreich seine beträchtlichen finanziellen Ressourcen und seine Reputation als eine Führungsmacht des sunnitischen Islam zugunsten der amerikanischen Weltpolitik ein. Die Hochzeit der Zusammenarbeit waren die 1980er Jahre, als Saudi-Arabien im Iran-Irak-Krieg eng kooperierte, um eine Ausweitung des Konfliktes auf die Nachbarstaaten zu verhindern und die Seewege im Persischen Golf zu schützen. Auch der Kuwait-Krieg 1990-91 war ein wichtiges Beispiel, weil die saudi-arabische Führung ein enormes Risiko einging, als sie gegen den Widerstand von weiten Teilen der Bevölkerung die Stationierung von hunderttausenden amerikanischen Soldaten auf ihrem Territorium zuließ.

Saudis und Europäer haben oft die gleiche Sicht auf die Region

Obwohl mit dem Zerfall der Sowjetunion ein wichtiger Grund für die enge Bindung des Königreichs an den Westen wegfiel und die Meinungsverschiedenheiten zwischen Riad und Washington zunahmen, blieben die Beziehungen eng. Dies galt insbesondere für die Bekämpfung des islamistischen Terrorismus, der seit einer Welle von Anschlägen in der saudi-arabischen Hauptstadt Riad im Mai 2003 auch von Saudi-Arabien als wichtige Bedrohung erkannt wurde. Fortan entwickelte sich das Königreich zu einem der zentralen Verbündeten der USA und der Europäer im Kampf gegen Al-Qaida; die Zusammenarbeit zwischen den saudi-arabischen und westlichen Sicherheitsbehörden funktionierte sehr gut, war und wurde ausgebaut. Häufiger als zuvor zeigte sich nach 2001 überdies, dass saudi-arabische und europäische Positionen übereinstimmten. Dies galt neben der Terrorismusbekämpfung vor allem für den israelisch-palästinensischen Konflikt, in dem der saudi-arabische König Abdallah 2002 einen Friedensplan vorlegte, der ziemlich genau europäischen Vorstellungen von einer Zweistaatenlösung entlang der Grenzen von 1967 entsprach. Es wurde deutlich, dass Saudi-Arabien sein beträchtliches politisches Gewicht zur Lösung des Konfliktes in die Waagschale werfen würde, sollten Israelis und Palästinenser Bereitschaft erkennen lassen, Frieden zu schließen.

Die prowestliche Außenpolitik des Landes stand immer im Widerspruch zu seiner inneren Verfasstheit. Die politische Kultur des Landes wird bis heute durch die enge Bindung zwischen dem Herrscherhaus und den wahhabitischen Religionsgelehrten geprägt. Seinen Ursprung hat diese Bindung im Jahr 1744/45, als der Begründer und Namensgeber der Wahhabiya, Muhammad Ibn Abdalwahhab (1703/04-1792) sich mit dem Stammvater der saudischen Herrscherfamilie, Muhammad Ibn Saud (1710-1765) verbündete. Während der Herrscher von der Legitimierung durch eine besonders wirkmächtige religiös-politische Ideologie profitierte, erhielten die Gelehrten ein politisches Mitspracherecht und dominierten Justiz, Erziehung und den religiösen Lebensbereich. Ibn Abdalwahhab und seine Anhänger waren der Überzeugung, dass sich die zentralarabische Gesellschaft vom wahren Islam abgewandt hatte und durch eine Rückkehr zum Glauben und Leben der frühen Muslime im 7. Jahrhundert reformiert werden müsse. Die Wahhabiten glaubten, die Gesellschaft des Propheten und seiner Gefährten in Mekka und Medina wiederaufleben lassen zu können und bezogen daraus ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein, das mit einer strikten Abgrenzung von Nichtmuslimen einherging. Als Muslim galt den Wahhabiten aber nur derjenige, der ihre Glaubenslehre und ihre strikten Verhaltensvorschriften vorbehaltlos übernahm. Dies führte nicht nur dazu, dass sie eine ausgeprägte Abneigung gegenüber Christen und Juden entwickelten und die Schiiten ebenso wenig als Muslime akzeptierten, sondern sie betrachteten auch nichtwahhabitische Sunniten als Abtrünnige, die in einem „Heiligen Krieg“ bekämpft werden durften. So wurde die Wahhabiya zur perfekten Ideologie für den expandierenden saudi-arabischen Staat, der innerhalb von wenigen Jahrzehnten große Teile der Arabischen Halbinsel eroberte.

Politische Reformen stoßen immer wieder an enge Grenzen

In den folgenden zwei Jahrhunderten gelang es den Gelehrten in Saudi-Arabien wie in keinem anderen arabischen Land, ihre starke Stellung in Gesellschaft, Justiz und Erziehung zu bewahren. Dies wurde möglich, weil sie ihren Einfluss auf die zutiefst konservative und religiöse Bevölkerung Zentralarabiens nie verloren. Schon deshalb hatte die Herrscherfamilie kein Interesse daran, sie vollkommen zu entmachten. Vielmehr profitierte sie davon, dass die wahhabitischen Gelehrten nicht nur ihre Herrschaft insgesamt, sondern auch einzelne kontroverse Entscheidungen legitimierten. Der bekannteste Vorfall dieser Art war ein Rechtsgutachten vom August 1990, in dem die führenden Kleriker des Landes die Entscheidung der Regierung guthießen, amerikanische Truppen zum Schutz vor einem möglichen irakischen Angriff ins Land zu holen. Der Preis für die Unterstützung durch die wahhabitischen Gelehrten war und ist hoch. Denn sie prägen die politische Kultur des Landes vor allem dadurch, dass sie jeglichem Wandel enge Grenzen setzten. Dies betrifft beispielsweise die zwei bis drei Millionen Schiiten, die mehrheitlich im Osten des Landes leben und schlimmen Benachteiligungen ausgesetzt sind. Da sie den Wahhabiten als besonders verabscheuungswürdige Ungläubige gelten, ist eine Gleichberechtigung ausgeschlossen. Politische Reformen stoßen deshalb immer wieder an enge Grenzen und ein wirklich grundlegender Wandel wird erst dann möglich werden, wenn das althergebrachte Bündnis mit den Gelehrten aufgekündigt ist. Die Allianz zwischen Thron und Altar hat aber auch über Saudi-Arabien hinausgehende Auswirkungen. Seit den 1960er Jahren half der saudi-arabische Staat den wahhabitischen Gelehrten mit sehr viel Geld, ihre Lehren außerhalb der Grenzen des Landes zu verbreiten. Die Missionstätigkeit trug weltweit zur Entstehung des modernen Salafismus bei, einer Strömung, zu deren wichtigsten Wurzeln die Wahhabiya zählt. Da auch die Salafisten sich stark von nichtsalafistischen Muslimen abgrenzen, förderte diese Politik in vielen Ländern religiöse und religionspolitische Konflikte. Bedenkt man überdies, dass Salafisten heute häufig den größten Rekrutierungspool für dschihadistische Gruppen stellen, wird vollends deutlich, wie gefährlich die saudi-arabische Religionspolitik für seine Nachbarn und die Weltpolitik insgesamt ist.

Die Debatte über Religion und Politik muss beginnen

Es ist kein Wunder, dass ein Staat, der solche Widersprüche nicht nur duldet, sondern mithilfe seiner Ölmilliarden exportiert, kontroverse Reaktionen auslöst. Dennoch kommt Deutschland an einer tiefer gehenden Auseinandersetzung mit dem bis heute weitgehend unbekannten Saudi-Arabien nicht herum. Als eine der führenden Industrienationen muss Deutschland gegenüber dem Staat, der über rund ein Viertel der Welterdölreserven verfügt, eine durchdachte Politik entwickeln. Und hierfür muss die Einsicht grundlegend sein, dass Saudi-Arabien ein oft unverzichtbarer und immer verlässlicher Partner ist, der gleichzeitig durch seine fehlgeleitete Innen- und Religionspolitik Konflikte im Land und weit darüber hinaus schürt. Zu einer solchen Politik gehört auch eine ebenso lebhafte wie kenntnisreiche begleitende Debatte über die saudi-arabische Politik, die mit dem Verhältnis zwischen ISIS und Saudi-Arabien beginnen könnte. Denn der saudi-arabische Staat gehört zu den entschiedensten Gegnern von ISIS und hat die Organisation nie finanziert, trug gleichzeitig aber zur Entstehung des ideologischen Umfeldes bei, in dem dschihadistische Organisationen aufblühen. Ein Widerspruch, dem wir mit einfachen Wahrheiten nicht gerecht werden.
Der Autor ist Islamwissenschaftler und arbeitet für die Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Am 1. Oktober erscheint sein neues Buch „Al-Qaidas deutsche Kämpfer“ bei der edition Körber-Stiftung.

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