Bildung: Macht Politik endlich zum Schulfach!
Als Lehrer weiß ich: Schüler interessieren sich für Politik, vor allem die im Hier und Jetzt. Unterrichtet wird das aber kaum. Das ist falsch. Denn fehlendes Wissen führt zur Verführbarkeit durch Populisten. Ein Gastbeitrag
Die EU hat nicht nur Großbritannien verloren, sondern auch viel Vertrauen. Auch wenn die Franzosen gerade mehrheitlich proeuropäisch abgestimmt haben, die jungen Menschen sind skeptisch: 82 Prozent misstrauen der Politik, wie die große Studie „Generation What“ ergab, an der hunderttausende junge Leute zwischen 18 und 34 Jahren in 35 Ländern teilnahmen. In Deutschland gaben zwar „nur“ 23 Prozent an, der Politik zu misstrauen, aber das darf kein Trost sein! Denn neben dem Vertrauen mangelt es den Jungen auch an Wissen – über politische Prozesse, Strukturen und Systeme.
Schon vor Jahren ergab eine Studie, dass Jugendliche nicht den Unterschied zwischen Demokratie und Diktatur erklären können. Und beim Türkei-Referendum gaben viele Deutsch-Türken an, gar nicht genau zu wissen, über was sie abstimmen. Dieses Nicht-Wissen über politische Zusammenhänge macht gerade Jugendliche empfänglich für einfache Antworten und Parolen von Populisten und Extremisten.
Dass es in Deutschland an politischer Bildung mangelt, ist hausgemacht: Das Fach Politik führt in der Schule ein Schattendasein. In vielen Bundesländern wurde es mit anderen Fächern zusammengelegt oder in die Wahlpflichtecke gedrängt. Den Lehrplänen fehlt es zudem an Flexibilität und Aktualität. Erst vor Kurzem forderte die Landesschülervertretung Hessen, dass sich die Inhalte viel stärker am tatsächlichen realen Geschehen orientieren sollten.
Besonders Berlin vernachlässigt die Politik
Und die Behauptung, Jugendliche hätten kein Interesse an Politik, ist längst ein leeres Vorurteil. Die vielen Krisen in der Welt haben auch ihr Gutes: Seit Jahren beobachte ich, dass Schüler wieder verstärkt Fragen stellen – von selbst: Wieso verlässt Großbritannien die EU? Warum kommen so viele Flüchtlinge nach Europa? Und in der WhatsApp-Gruppe meines Geschichtskurses votierten letzten November 100 Prozent für die Besprechung der US-Wahlen. Sie wollten unter anderem wissen, warum Trump weniger Stimmen als Clinton bekam und dennoch Präsident wurde.
Besonders vernachlässigt wird der Politikunterricht in Berlin, wo es kein eigenständiges Fach in der Mittelstufe gibt. Wie das fünfte Rad am Wagen werden politische Themen im Geschichtsunterricht behandelt. Immerhin: Wer in die gymnasiale Oberstufe wechselt, kann bei Interesse das Fach „Politikwissenschaft“ wählen. Vor zwei Jahren schaute ich in fragende Gesichter meines Politik-Kurses, als ich nach dem EU-Binnenmarkt fragte. Ob sie das nicht in der zehnten Klasse besprochen hätten? Einige Schüler der ehemaligen 10c grinsten mich an; der verantwortliche Lehrer war ich! Weil die Klasse im Stoff hinterherhinkte, ließ ich das Politikthema EU zugunsten der Geschichtsthemen DDR und Wiedervereinigung unter den Lehrertisch fallen. Viele Kollegen berichten von vergleichbaren Notlösungen.
Eine Schülergruppe wirbt für Politik - bisher erfolglos
Wenn ab dem Schuljahr 2017/18 der neue Geschichtslehrplan in Kraft tritt, verschärft sich das Problem: Denn der ausgehandelte Lehrplan-Kompromiss braucht viel Zeit für Geschichte. Wie diese Stofffülle an der Integrierten Sekundarschule mit einer Stunde pro Woche zu schaffen ist, wird zum Rätsel der Berliner Schulgeschichte.
Seit 2010 besteht die Berliner Schülerinitiative „Politik als Schulfach“. Und die Politikwissenschaftlerin Sabine Achour wird nicht müde zu betonen, dass Politikunterricht nicht „elitäres Angebot für die gymnasiale Oberstufe“ bleiben dürfe. Es bedarf nun einer mutigen politischen Entscheidung. Um die Zahl der Unterrichtsstunden für die Schüler nicht weiter zu erhöhen, müsste ein Wahlpflichtkurs abgeschafft oder eine heilige Kuh geschlachtet werden: In Klasse 9 und 10 könnte Ethik durch Politik ersetzt werden.
Zur Enttäuschung der engagierten Schülervertreter hat sich – von einigen politischen Absichtserklärungen – bisher nichts getan. Bezeichnend ist daher die Aussage in Berlins rot-rot-grünem Koalitionsvertrag: Mit Schülern, Pädagogen und Eltern werde „ein konstruktiver Dialog geführt, wie die politische Bildung, auch über die Einführung eines Faches Politik, verstärkt werden kann“. What?
- Der Autor ist Lehrer und Seminarleiter für Geschichte in Berlin und war 2013 „Lehrer des Jahres“
Von Robert Rauh
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