Wählen lernen: Schule ohne Politikunterricht
Sozialkunde und Demokratieunterricht kommen in der Schule zu kurz – besonders in Berlin. Dabei können Jugendliche oft nur in der Schule Zugang zur Politik finden
„Herr Präsident, meine Damen und Herren“, wendet sich Helen Sauter mit getragener Stimme an die Kollegen im Saal. Die 16-jährige Schülerin ist zuvor mit geradem Rücken zum Mikrofon geschritten. Schließlich steht sie hier als Ministerpräsidentin von Nordrhein-Westfalen und soll zusammen mit ihren Mitschülern eine Bundesratsdebatte simulieren. Die selbstbewusste junge Frau in Jeans und T-Shirt gehört zum Politik-Leistungskurs der 11. Jahrgangsstufe des Berliner Heinrich-Hertz-Gymnasiums, der einen Vormittag lang den Bundesrat besucht. In einem Rollenspiel machen sich die 16 Schüler und Schülerinnen mit den Ritualen des Hohen Hauses vertraut. Sie führen mit großem Ernst eine Debatte über den Mindestlohn.
Wer ihnen zusieht, ist ganz erstaunt, wie täuschend echt die Schüler Gesten und Redewendungen von Politikern nachahmen. Auffallend ist aber auch, wie unsicher die Jugendlichen bei den politischen Inhalten ihrer Debatte sind. Helen hat sich bewusst für den Leistungskurs Politik entschieden. „Ich will ja das politische System verstehen und mehr Ahnung haben, wenn ich dann wählen gehe“, sagt sie. Vorkenntnisse habe sie bislang kaum.
Antje Lorenz, Leiterin des Besucherdienstes im Bundesrat, ist besorgt. Seit elf Jahren betreut sie Schülergruppen und sagt, sie müsse die Ansprüche jedes Jahr weiter herunterschrauben. „Die Jugendlichen haben oft tote Begriffe im Kopf und können das mit Politik nicht in Beziehung setzen.“ Sie seien aber durchaus wissbegierig – und dankbar, im Bundesrat endlich mehr zu erfahren. Bei rund 35 000 Schülern und Schülerinnen ab der 9. Klasse, die pro Jahr in den Bundesrat kommen, werde deutlich, wie unterschiedlich und vielerorts defizitär die politische Bildung in den Bundesländern betrieben wird, sagt Lorenz. Die Berliner Schülergruppen wüssten am wenigsten. Lorenz will weiter daran arbeiten, dass die Jugendlichen etwa die Unterschiede zwischen Demokratie und Diktatur kennenlernten.
Politikerziehung - im Alltag kommt davon wenig an
Tatsächlich gehört der Politikunterricht bundesweit zu den vernachlässigten Schulfächern. Zwar steht die Demokratie-Erziehung als wichtiges Ziel in allen Bildungsplänen, aber im Schulalltag ist davon wenig zu merken. Dabei zeigte eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung 2013, dass die Schule für viele Jugendliche der einzige Ort ist, an dem sie an politische Debatten herangeführt werden. Gerade an Hauptschulen, Sekundarschulen und Berufsschulen bestehe deshalb besonderer Handlungsbedarf. Regelmäßiger Sozialkundeunterricht könne ihre politische Beteiligung steigern, etwa die Bereitschaft, wählen zu gehen. Deshalb müsse das Fach im Lehrplan fest verankert sein und von Fachlehrern unterrichtet werden, forderten die Experten.
„Der Politikunterricht erreicht nur noch die Bildungselite“, kritisiert auch Sabine Achour, Vorsitzende des Berliner Landesverbandes der deutschen Vereinigung für politische Bildung (DVpB). Gerade in der Hauptstadt sei der Politikunterricht eher ein „elitäres Angebot für die gymnasiale Oberstufe“. In Berlin gibt es zwar offiziell auch schon in der 7. bis 10. Klasse „Sozialkunde“. Da das Fach aber an den Geschichtsunterricht gekoppelt ist und deshalb oft von Geschichtslehrern unterrichtet wird und keine getrennte Benotung erfährt, lassen viele Schulen den Politik-Anteil einfach unter den Tisch fallen. Anderswo, beispielsweise in Brandenburg, ist Politische Bildung dagegen ein Pflichtfach.
Die Initiative "Politik als Schulfach" stellt kaum Interesse von Politikern fest
Achour sieht die Schuld bei der Politik, die sich immer erst in Wahlzeiten – wie jetzt vor der Europawahl – darauf besinne, dass die niedrige Wahlbeteiligung vor allem junger Leute auch an der unzureichenden politischen Bildung in den Schulen liegen könnte. Bei der U18-Europawahl, einer simulierten Abstimmung unter Kindern und Jugendlichen zur Europawahl am 16. Mai, stimmten gerade einmal 34 202 Wähler bundesweit mit. Berlin war allerdings besonders aktiv, auf Initiative der Schulverwaltung beteiligten sich gut 12 000 Jugendliche.
Eine punktuelle Aktion, während viele Berliner Schulen gleichzeitig den Sozialkundeunterricht ausfallen lassen? Der Bildungsverwaltung lägen keine Zahlen über den Sozialkunde-Anteil vor, sagt Sprecher Thorsten Metter. Handlungsbedarf wird dennoch gesehen: Sozialkunde solle zukünftig wieder getrennt benotet werden, heißt es. Außerdem solle das Fach ab dem Schuljahr 2015/16 Politische Bildung heißen.
Das könnte die seit 2010 bestehende Schülerinitiative „Politik als Schulfach“ eigentlich als Erfolg für sich verbuchen. Mitbegründerin Ruth Appel ist trotzdem enttäuscht. Anfangs sei es zu zahlreichen Begegnungen mit führenden Bildungspolitikern gekommen, auch mit Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD). Doch seit Monaten bekomme die Initiative keine Rückmeldung mehr zu ihren Plänen, etwa berlinweit Schülerworkshops zu organisieren, sagt Appel.
Gemma Pörzgen
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