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Deutsche oder europäische Ostpolitik? Außenminister Heiko Maas (SPD) fliegt heute nach Moskau.
© Wolfgang Kumm/dpa

Besuch in Moskau : Maas' neue Ostpolitik: Ein Etikettenschwindel

Der Außenminister beruft sich auf eine große Tradition seiner Partei, ignoriert aber die Lehren daraus. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Heiko Maas fährt heute nach Moskau, um den INF-Vertrag über das Verbot atomarer Mittelstreckenraketen zu retten. Er reist weiter in die Ukraine, um über Wege zur Beendigung des Krieges zu sprechen, den Russland dort seit fünf Jahren führt. Seit Monaten spricht der Bundesaußenminister immer wieder von der Notwendigkeit einer "neuen Ostpolitik". Der Begriff knüpft an eine große Tradition an: die Ostpolitik der SPD-geführten Bundesregierungen in den 1970er Jahren.  

Der Zufall wollte es, dass der Berliner Think Tank "Zentrum Liberale Moderne" am Vortag zu einer internationalen Konferenz eingeladen hatte: "Russland und der Westen: Brauchen wir eine Ostpolitik 2.0?" Die Gäste kamen aus Russland, der Ukraine, den baltischen Staaten, Polen, Großbritannien, den USA und weiteren Ländern. Es galten die Chatham-House-Regeln, um einen offenen Dialog zu ermöglichen: Es darf berichtet werden, was gesagt wurde, aber niemand darf namentlich zitiert werden.

Nicht deutsche, sondern europäische Ostpolitik

Ja, wir brauchen eine neue Politik gegenüber den Nachbarn im Osten, war die einhellige Meinung. Aber das müsse eine gesamteuropäische Politik sein, keine deutsche Ostpolitik. Sie dürfe sich nicht auf Russland konzentrieren, sondern müsse den ganzen Raum östlich von Deutschland im Blick haben.

Der Versuch, eine Traditionslinie zu ziehen von Brandts Ostpolitik vor 50 Jahren zu heute, stieß auf Kritik und auf augenzwinkernden Spott. Der Ansatz sei eine innenpolitisch motivierte Inszenierung, um das traurige aktuelle Bild der SPD durch die Berufung auf ihre Kanzler Willy Brandt und Helmut Schmidt aufzuhübschen. Maas' Griff nach der Geschichte sei in dieser Hinsicht aber irreführend. Die internationale Lage heute sei eine andere. Und Maas folge nicht den Erfolgsrezepten von damals.

Willy Brandts Ostpolitik war darauf ausgerichtet, den Status quo zu verändern - und nicht darauf, sich mit ihm zu arrangieren. Sie öffnete die Beziehungen zur Sowjetunion, zu Polen, zur DDR. Sie war flankiert von der Bemühung um eine gesamteuropäische Friedensordnung, die darauf zielte, Grundrechte für die Bürger der kommunistischen Diktaturen im Osten Europas durchzusetzen: der so genannte "Korb 3" der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE). Auch militärische Abschreckung war Teil dieser Ostpolitik. Mit der Nachrüstung als Antwort der Nato auf die Aufstellung sowjetischer Mittelstreckenraketen erreichte der Westen atomare Abrüstung: in eben jenem INF-Vertrag, der jetzt in Frage steht, weil Russland verbotene Waffensystem entwickelt und stationiert, und den Maas retten möchte.

Damals war der Westen einig, stark, konsequent

Alle diese Erfolge basierten auf der Einheit des Westens, seiner Position der Stärke gegenüber Moskau und auf seiner konsequenten Haltung. Die Bürger der Nato-Staaten hielten zusammen und ließen sich durch militärische Drohungen des Kreml nicht einschüchtern. Und: Die Bundesrepublik führte keine eigene nationale Ostpolitik, sondern stimmte jeden Schritt mit den Verbündeten ab.  

Heute hingegen, so die Analyse der Konferenzteilnehmer, sei der Westen gespalten. Er wirke oft schwach in den Auseinandersetzungen mit Russland, obwohl er doch ökonomisch und technisch himmelhoch überlegen sei. Und es gebe einen Hang, lieber wegzuschauen und nachgiebig auf russische Aggression zu reagieren, vom Konflikt in Transnistrien über Georgien bis zur Ukraine.

Im Nachrüstungsstreit flog Helmut Schmidt nach Washington und verlangte von der US-Regierung, sie müsse Mittelstreckenraketen aufstellen, um Russland zum Abbau seiner Raketen zu zwingen. Seine Furcht war, dass die USA sich aus ihrer Verantwortung für Europas Sicherheit verabschieden könnten. Moskaus Ziel war in Schmidts Augen, Europa von Amerika abzuspalten. Und er hielt das für verhängnisvoll.

Russland richtet Raketen auf Deutschland, nicht die USA

Was müsste Heiko Maas tun, wenn er an die Traditionen und die Erfolgsrezepte der Ostpolitik unter Brandt und Schmidt anknüpfen wollte? Er müsste sich um Einheit und Stärke des Westens gegenüber Russland bemühen. Er müsste sich in Verlängerung des Ringens um "Korb 3" der KSZE für die Rechte der Dissidenten in Russland einsetzen, damit sie nicht ermordet oder eingekerkert werden. Er müsste den Deutschen klar machen, dass die Raketen, die sie und andere europäische Verbündete bedrohen, russische Raketen sind und dass die Militärmacht der USA sie vor dieser Gefahr schützt.

Maas jedoch schließt eine westliche Nachrüstung von vornherein aus und stellt es so dar, als sei Amerika der Spaltpilz und nicht Russland. Er darf selbstverständlich die Politik der USA kritisieren, wenn er meint, dass diese deutsche Interessen gefährde. Das haben auch Brandt und Schmidt getan. Sie haben freilich darauf geachtet, dass man die Kritik an engen Verbündete nicht öffentlich äußert, sondern hinter verschlossenen Türen. Den Gegner hingegen darf und soll man offen kritisieren.

Amerikas Mitverantwortung für Europas Sicherheit

Er müsste wie Kanzler Schmidt nach Washington fliegen und von den USA fordern, dass sie sich nicht aus ihrer Mitverantwortung für Europas Sicherheit zurückziehen.

Er müsste den Abbau russischer Raketen lauter fordern als den Abzug amerikanischer Waffen aus Europa. Und klarmachen, dass russische Abrüstung eine Vorbedingung für die deutsche Zustimmung zu amerikanischer Abrüstung ist.

Eine Ostpolitik in Brandt'scher Tradition wäre darauf aus, sich nicht mit der Besetzung von Nachbarstaaten durch Moskaus Truppen abzufinden, sondern Wege aus dieser Lage zu öffnen - durch eine Mischung aus Kooperationsangeboten und Druck. Russland sei ja gar nicht stark, betonte ein erfahrener deutscher Außenpolitiker. Es sei schwach. 1990 sei Russlands Bruttosozialpolitik noch doppelt so hoch wie das Chinas gewesen. Heute betrage es ein Zehntel des chinesischen. Man solle Russland Kooperation anbieten. Aber, wenn Moskau das ablehne, den Druck erhöhen.

Eine russische Politologin erläuterte unter Berufung auf russische Umfragen, dass die Positionierung Russlands als Gegner des Westens eine Strategie "alter weißer Männer über 60" sei, die das Land heute führen. Die Bevölkerung sei überhaupt nicht so amerikafeindlich eingestellt, das sei "eine Elitenhaltung". Die Jungen und die mittlere Altersklasse wollten eine Entspannung mit dem Westen. Es herrsche Unmut, dass Präsident Putin so viel Geld für das Militär und die Außenpolitik ausgebe und zu wenig für Verbesserungen in der Innenpolitik tue. In der mittleren Altersklasse der Regierung und Verwaltung mache sich Frustration breit, weil die Älteren sie nicht an die Macht lassen. Sobald der Generationenwechsel erfolge, werde sich Russlands Haltung gegenüber dem Westen ändern. Sie erwarte das bereits ab 2020.

Wegschauen bei russischer Aggression

Die abschließende Podiumsdiskussion am Abend der ganztägigen Konferenz war dann öffentlich. Die frühere grüne Bundestagsabgeordnete Marieluise Beck beklagte die Neigung der Deutschen, bei russischen Angriffen auf Nachbarn "wegzusehen" und "nicht auszusprechen, was passiert". Sowie eine "Scheu, Russland als einen kriegführenden Gegner zu benennen". Es sei ja noch verständlich, dass die Deutschen die Abspaltung Transnistriens von Moldawien 1990 in ihrer strategischen Dimension nicht begriffen haben. Spätestens bei der Besetzung der georgischen Provinzen Abchasien und Südossetien und später der Krim sowie der Ostukraine hätte sich aber niemand mehr Illusionen machen dürfen.

Sergej Aleksashenko, in den 1990er Jahren stellvertretender Finanzminister Russlands und heute ein Experte bei Brookings fragte: Warum lässt Deutschland den russischen Propagandasende "Russia Today" hierzulande senden, ohne sich umgekehrt attraktive Frequenzen für einen inhaltlich von Deutschen gestalteten russischsprachigen Sender in Russland zusichern zu lassen? Und warum gebe Deutschland Putin über die Gasverträge so viel ökonomische Macht in die Hand und lasse zu, dass Moskau der Ukraine die Einnahmen aus dem Energietransit abschneide?

Kadri Liik, eine Estin, die beim European Council on Foreign Relations in London arbeitet, argumentierte, Europa müsse zusammenstehen, wenn seine Stimme Einfluss haben soll. Russlandpolitik müsse europäisch sein, nicht deutsch.

Trumps Drohung, die Nato zu verlassen

Julianne Smith, Nationale Sicherheitsberaterin des Vizepräsidenten Joe Biden in den Obama-Jahren und nun eine Gastexpertin der Bosch-Stiftung in Berlin, warb dafür, das transatlantische Bündnis zu stärken und Russland einzudämmen. Donald Trump sei dabei ein Problem. Die USA hätten keine einheitliche Russlandpolitik. Der Präsident, die US-Regierung und die Parteien im Kongress verfolgten unterschiedliche Strategien. Obama habe sich um einen "Reset" der Beziehungen zu Russland bemüht. Um das Verhältnis zu Wladimir Putin zu verbessern, habe er 2012 einen Sondergesandten nach Moskau geschickt mit sieben Seiten voller Vorschläge, was man gemeinsam machen könne. Putin habe sie allesamt abgelehnt.

Vor allem aber müsse Europa Trumps Drohung ernst nehmen, die Nato-Mitgliedshaft der USA zu beenden, warnte Smith. Was mache Europa dann? Die Europäer redeten gern von "strategischer Autonomie", täten aber wenig, um sie zu erreichen.

80 Jahre nach dem Hitler-Stalin-Pakt

Ralf Fücks, der mit Marieluise Beck das Zentrum Liberale Moderne leitet, beobachtet einen Hang zu "Nostalgie und Mythisierung der Brandt'schen Ostpolitik" in der aktuellen deutschen Debatte über Außenpolitik. Sie "war nicht bilateral, sondern fest eingebunden in den Westen. Sie setzte auch auf militärische Abschreckung." Die gängige Behauptung, die Nato habe Russland versprochen, sich nicht nach Osten zu erweitern, sei historisch falsch und "eine Propagadafigur Moskaus". Auch habe Gorbatschow das bestätigt.

Die grüne Europaabgeordnete Rebecca Harms warnte, im Europäischen Parlament werde die Debatte über eine neue deutsche Ostpolitik "mit ganz großem Misstrauen gesehen". 80 Jahre nach dem Hitler-Stalin-Pakt dürfe nicht der Eindruck entstehen, als wollten Berlin und Moskau Europas Zukunft unter sich ausmachen. 

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