EU-Kommissar für Brüssel: Londons Stuhl wird wohl frei bleiben
Es ist nicht zu erwarten, dass Johnson demnächst einen Kommissar für Brüssel benennt. Wie es jetzt im Vertragsverletzungsverfahren voraussichtlich weitergeht.
Die EU-Kommissionssprecherin Mina Andreeva zeigte sich am Freitag zuversichtlich. Es sei das „feste Ziel“, dass die neue EU-Kommission unter der Leitung von Ursula von der Leyen am 1. Dezember ihre Arbeit aufnimmt, sagte Andreeva in Brüssel. Die Beteuerung der Sprecherin wäre nicht nötig gewesen, wenn es nicht zwei Punkte gäbe, die den zum ersten Advent geplanten Start der neuen Kommission in Frage stellen könnten: Die Weigerung Großbritanniens, einen neuen EU-Kommissar nach Brüssel zu schicken und der endgültige Ausgang der Befragung des designierten ungarischen EU-Erweiterungskommissars Oliver Varhelyi.
Die EU-Kommission hatte am Donnerstagabend die erste Stufe eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen Großbritannien in Gang gesetzt, weil Boris Johnson sich weigert, ein Mitglied für die neue EU-Kommission zu benennen. Das Mahnschreiben aus Brüssel, dem zufolge der britische Premierminister einen Kommissar schicken soll, ist in erster Linie eine juristische Absicherung für von der Leyen. Mit dem Verfahren soll sichergestellt werden, dass Entscheidungen der künftigen Kommission nicht irgendwann vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) angefochten werden.
Denn die EU-Verträge sehen grundsätzlich vor, dass jeder Mitgliedstaat in der EU-Kommission vertreten ist. Da aber die neue Kommission voraussichtlich am 1. Dezember ohne einen Vertreter oder eine Vertreterin aus London die Arbeit aufnehmen wird, galt es in Brüssel, das insgesamt 27-köpfige Gremium – mit von der Leyen an der Spitze – gegen mögliche juristische Anfechtungen abzusichern.
Mit der Einleitung des Vertragsverletzungsverfahrens erbringt die EU-Kommission gewissermaßen einen juristischen Nachweis, wirklich mit allen Mitteln auf eine Nachfolge des amtierenden britischen EU-Kommissars Julian King gedrungen zu haben. In den vergangenen Wochen hatte von der Leyen den britischen Premier Johnson zunächst zweimal schriftlich aufgefordert, einen Kommissar zu nominieren.
Verfahren zwischen Brüssel und London abgesprochen
Anschließend schickte die britische Regierung in einem zwischen Brüssel und London abgestimmten Verfahren einen Brief an die Kommission, in dem mitgeteilt wurde, dass Johnson wegen der bevorstehenden Parlamentswahlen keinen Kommissar benennen werde. Gleichzeitig stellte die Regierung in London aber auch klar, der zügigen Bildung einer neuen Kommission nicht im Weg zu stehen. In einem zweiten Schritt eröffnete Brüssel daraufhin das Verfahren gegen London. Johnson hat nun bis zum kommenden Freitag Zeit, Stellung zu nehmen.
Johnson steht in der Kommissarsfrage innenpolitisch unter Druck
Dass der Premierminister aufgrund des Brüsseler Mahnschreibens doch noch einen Kommissar benennt, ist nicht zu erwarten. Denn Johnson würde sich damit mitten im Wahlkampf dem Vorwurf der Brexiteers aussetzen, es mit dem EU-Austritt nicht ganz so ernst zu nehmen. Umgekehrt würde sich auch auf EU-Seite die Frage stellen, welches Ressort die austrittswilligen Briten überhaupt sinnvollerweise bekommen sollten.
Das Verfahren dürfte sich von alleine erledigen
Vor diesem Hintergrund scheint die Lesart der britischen Boulevardzeitung „Daily Mail“, dass das Vertragsverletzungsverfahren „enorme“ Strafzahlungen zur Folge haben könnte, etwas übertrieben. Denn bevor das Verfahren zum Abschluss kommt, dürfte es sich von alleine erledigt haben – entweder durch den Austritt der Briten oder die Nominierung eines Kommissars im Fall einer Fortsetzung der Brexit-Hängepartie nach der Unterhauswahl.
Auch die EU-Staaten müssen der Kandidatenliste einstimmig zustimmen
Jedenfalls scheinen die Briten einem Start der neuen Kommission zum 1.Dezember nicht mehr im Wege zu stehen. Gegenwärtig ist die Abstimmung über sämtliche 26 neuen Kommissare für den 27. November im Europaparlament in Straßburg vorgesehen. Zuvor muss laut dem vorgesehenen Verfahren die Liste der 26 Kommissare einstimmig durch die EU-Mitgliedstaaten abgesegnet werden.
Noch ein zweiter Stolperstein
Bevor es dazu kommt, hat der designierte ungarische Erweiterungskommissar Oliver Varhelyi gegenüber kritischen EU-Abgeordneten noch den Beweis zu erbringen, dass er im neuen Amt unabhängig von Regierungschef Viktor Orban agieren kann. Bei seiner Anhörung vor dem EU-Parlament hatte der bisherige Budapester EU-Botschafter am Donnerstag noch ausweichend auf entsprechende Fragen geantwortet. Nachdem damit Abgeordnete der Sozialdemokraten, der Liberalen und der Grünen nicht zufrieden waren, soll Varhelyi schriftlich auf die kritischen Punkte antworten.
Ungarns Kandidat Varhelyi muss bis Montag kritische Nachfragen beantworten
So wollen die Abgeordneten von Varhelyi wissen, wie er es bewerte, wenn ein beliebiger EU-Mitgliedstaat einem verurteilten ehemaligen Premierminister Asyl gewähre. Die Frage zielt darauf, dass Orban vor einem Jahr dem ehemaligen nordmazedonischen Regierungschef Nikola Gruevski Zuflucht geboten hatte. Damit half Orban seinem politischen Vertrauten aus Skopje, einer Gefängnisstrafe zu entgehen. Am Donnerstag hatte Varhelyi auf die Frage nach der Causa Gruevski noch mit dem Hinweis geantwortet, dass die Gewährung von Asyl eine Angelegenheit für die EU-Mitgliedstaaten sei.
Die kritischen EU-Abgeordneten stoßen sich daran, dass mit Varhelyi ein Bewerber aus einem Land mit fragwürdigen Rechtsstaats-Standards künftig EU-Beitrittskandidaten wie Serbien und Montenegro bewerten soll. Daher lautet eine der schriftlichen Fragen, wie Varhelyis Urteil als Erweiterungskommissar lauten würde, falls bei einem EU-Beitrittskandidaten die Opposition beschnitten, Medien und Universitäten gegängelt und Korruption unzureichend bekämpft werde. Bis zum kommenden Montag hat Varhelyi Zeit, Antworten auf die Fragen der Europaabgeordneten zu liefern.