20 Jahre danach: Lichtenhagen - Das Kapitel des Bösen
„Unsere Heimat kommt nicht in braune Hände!“ 20 Jahre nach den Gewaltexzessen von Rostock zeigt sich Bundespräsident Joachim Gauck „entsetzt und beschämt“. Aber manche fragen: Warum erst jetzt?
Gut eine Stunde hat Joachim Gauck auf der Tribüne gesessen. Er hat einem Kinderchor gelauscht, Grußworte gehört und selbst eine Gedenkrede gehalten. Jetzt klettert der Bundespräsident von dem Holzgestell herunter, auf das die Rostocker Organisatoren die angereisten Very Important Persons platziert haben, die an diesem Sonntag hierher in den Stadtteil Lichtenhagen gekommen sind, um sich ihre Scham wegzufeiern.
Die ganze Zeit über hat Gauck sehr ernst ausgesehen. Auch jetzt noch, da die Veranstaltung zu Ende ist, will sich sein Gesicht nicht richtig entspannen. Er presst die Lippen aufeinander, und wenn er denn mal lächelt, dann sieht es aufgesetzt aus. Man kann es ihm ansehen: Dieser Tag ist kein x-beliebiger Tag im Leben eines deutschen Staatsoberhauptes. Joachim Gauck ist in Rostock geboren, er hat die Hälfte seines Lebens hier verbracht. An diesem Sonntag gedenkt die Stadt der Tage, als vor 20 Jahren ein rechter Mob unter dem Beifall der Nachbarschaft ein Asylbewerberheim angezündet hat. Es ist für den Bundespräsidenten auch ein sehr persönlicher Gedenktag. Man könnte sagen: Joachim Gauck ist an diesem Sonntag aus dem Schloss Bellevue im fernen Berlin in seine Heimat zurückgekommen. Es war wohl keine sehr fröhliche Heimkehr.
20 Jahre ist es her, als an dieser Stelle, im Plattenbau mit dem Namen „Sonnenblumenhaus“, ein Wohnheim für Vietnamesen und Asylbewerber mit Molotowcocktails beworfen und dabei in Brand gesteckt wurde. Bis nach New York nahm man die Flammen damals wahr, die Titelblätter amerikanischer Zeitungen zeigten finstere Bilder mit Springerstiefeln. Fast drei Jahre nach dem Fall der Mauer fragte sich die Welt: Haben die Deutschen nichts gelernt? Mehr als 100 Menschen, junge Frauen, Kinder, waren in jenen Augusttagen um ein Haar ums Leben gekommen. In Panik retteten sie sich in letzter Minute auf das Dach des Plattenbaus, in den sie die Rostocker Ausländerbehörde einquartiert hatte. Unten vor dem Haus ereignete sich tagelang Ungeheuerliches: Polizisten standen tatenlos herum, Feuerwehrkräfte wurden daran gehindert, das Feuer zu löschen. Immer, sagt der Rostocker Joachim Gauck heute, immer, wenn er daran zurückdenke, dann ist er „beschämt, fassungslos, entsetzt“. Und er frage sich: „Wie konnte das nur passieren?“
Bildergalerie: 20 Jahre Pogrom von Lichtenhagen:
Auf diese Frage hat es in den letzten beiden Jahrzehnten viele Antwortversuche gegeben. An Busladungen voll gewaltbereiter Rechtsradikaler wollen sich einige erinnern, die aus dem Westen hierher gekarrt wurden. Vor allem von Einheimischen, die die Schuld ein wenig breiter im Land verteilen wollen, werden solche Geschichten erzählt. Auch von unfähigen Vorgesetzten im Rathaus und der Polizei ist die Rede. Meist jedoch erinnert man sich hier an die „unhaltbaren Zustände“. Für 250 Bewohner war das Übergangswohnheim für Asylbewerber im „Sonnenblumenhaus“ ausgelegt. Doch die Ausländerbehörden stopften immer mehr Rumänen, Bulgaren und Angolaner in das Haus. Bis zu 600 mussten zeitweilig dort leben. Zum Schluss hausten sie sogar auf der Wiese vor dem Haus. Mitten in einer Siedlung, in der die Zahl der Arbeitslosen damals fast täglich anstieg. Verunsicherte durch den Umbruch in Ostdeutschland, Frustrierte, die sich in der DDR eingerichtet und nun ihr Leben neu zu sortieren hatten. Es sei absehbar gewesen, sagt heute einer, der damals dabei war, „dass das irgendwann mal gewaltig knallen musste“. Mehrere hundert Nachbarn aus der Siedlung waren in jenem August vor das Ausländerwohnheim gekommen und haben den Mob angefeuert. „Ausländer raus“ war eine der harmloseren Floskeln.
Gauck und der "braune Osten"
Auch Gauck, der hier um die Ecke lange Zeit Pfarrer war, hat bis heute keine wirkliche Erklärung dafür gefunden, warum seinen Landsleuten damals jede Zivilcourage gefehlt hat. Auch er hilft sich mit dem Netz einer „Verunsicherung durch den Untergang der DDR“. Aus Angst und Arbeitslosigkeit sei wohl Hass geworden, sagt er. Und dann schließt er dieses „Kapitel des Bösen und Dunklen“, wie er es nennt, rasch. Geht über zu den „mutigen Zeichen der Rostocker“, die Tage später schon in Sternmärschen durch die Stadt gelaufen waren und sich von den Ereignissen distanzierten. Gauck will die Leute hier heute nicht mehr schuldig sprechen für das, was damals passiert ist. Ohnehin sind an diesem Sonntag nur wenige der Nachbarn gekommen. Es ist ein Fest der Vereine, der Bürokratie, der politischen Klasse. Nur ein paar Versprengte aus Rostock sind hier. Weil ihre Kinder oben auf der Bühne singen oder man den Gauck mal sehen will.
Aber ganz aus der Verantwortung kann er sie dann doch nicht nehmen. Wenn die Leute „zahlreicher zur Wahl gehen würden“, wirft er ihnen mit strenger Stimme von der politischen Kanzel herab vor, dann würde in Mecklenburg-Vorpommern die NPD nicht im Landtag „und allen Kreistagen“ sitzen. Dass es keinen „braunen Osten“ gibt, mahnt Gauck die Rostocker, das könne man nicht nur in Sonntagsreden behaupten. „Man muss dafür im Alltag den Beweis antreten.“ Die Würde des Menschen sei unantastbar, sagt er dann noch. „Und das gilt für jede Rasse, jede Religion und jede Hautfarbe.“
Auch den aus der Rostocker Innenstadt und der Landeshauptstadt Schwerin angereisten Ministern, Staatssekretären und Behördenleitern will Joachim Gauck die Erinnerung an ihre Verantwortung für die Eskalation der Gewalt 1992 nicht ersparen. „Verantwortungslosigkeit“, „Gedankenlosigkeit“, wirft Gauck ihnen im Nachhinein vor. Auch, dass wohl viele von ihnen in den Behörden einfach „die Augen geschlossen haben“. Gleichgültige Polizisten aus Rostock und ihre Chefs aus dem Westen, die hier Karriere machten, „Buschzulage“ kassierten und mit Argwohn von ihren einheimischen Untergebenen betrachtet wurden. Die an jenem Wochenende nur unwillig aus ihrer fernen Heimat angereist kamen, um die Gewalt zu stoppen. Gauck will es den Mecklenburgern nicht ersparen: „Es erschreckt mich immer wieder, wenn ich sehe, wie die Fremdenfeindlichkeit bis in die Mitte der Gesellschaft vorgedrungen ist.“ Vor nicht mal vier Wochen ist Gauck im Rathaus zum Ehrenbürger der Stadt Rostock ernannt worden. Er wurde als Sohn Rostocks geehrt, der die „Fackel der Freiheit und Demokratie“ trägt. Auch in Rostock ist die NPD ein fester Bestandteil der Bürgerschaft. Manche Ehrenbürgerwürde wird so für ihren Träger zur Bürde. Vor ein paar Wochen hat Gauck gelacht und sich mit offenem Gesicht über die Ehrenbürgerschaft gefreut. Jetzt, vor dem Asylbewerberhaus in Lichtenhagen, hält er vor allem eine Mahnung für seine Rostocker bereit: „Unsere Heimat kommt nicht in braune Hände.“
Die Rostocker haben sich an die düsteren Ereignisse vor 20 Jahren mehrere Tage lang erinnert. „Lichtenhagen bewegt sich“ war das Motto von Volksfesten, Diskussionsveranstaltungen und einem Sternmarsch durch die Innenstadt am Samstag, an dem mehrere tausend Bürger teilgenommen haben. Die Leute wollen das dunkle Kapitel schließen, sie wollen nicht mehr erinnert werden an das, was war. Fragt man in Lichtenhagen herum, ob sich jemand an die Ereignisse überhaupt noch erinnern kann, dann kommt: nichts. Es scheint, als wären alle, die 1992 hier die Rechtsradikalen angefeuert haben, später woandershin gezogen. Eine Eiche haben die örtlichen Bürgervertreter an diesem Sonntag vor dem ehemaligen Asylheim gepflanzt. Als mahnende Erinnerung. Die linke Szene fand das schrecklich, eine „deutsche Eiche“ dort zu pflanzen, wo Deutsche Ausländer beinahe umgebracht haben. Den meisten war das egal. Außer ein paar Stadträten, Vereinsmitgliedern hat an der Pflanzung niemand teilgenommen.
Was bleibt nach den Gedenkfeiern?
Wie sieht es also aus mit der alltäglichen Achtsamkeit und Toleranz, wenn das Festzelt an diesem Sonntag abgebaut ist und der hohe Besuch wieder abgefahren in die Hauptstadt? Neun Jahre lang war Joachim Gauck Vorsitzender des Vereins „Gegen Vergessen, für Demokratie“. Als „Demokratielehrer“ hat sich Gauck bis zu seiner Wahl zum Bundespräsidenten gesehen, ist jahrein, jahraus durch Deutschland gefahren und hat seine Geschichte von Freiheit und Verantwortung erzählt. Auch durch sein bekanntes Gesicht gehört der Verein zu den namhaftesten Organisationen Deutschlands, die sich gegen rechtes Gedankengut einsetzen.
Nur in Ostdeutschland, in Gaucks eigener Heimat also, da will der Verein auch heute noch nicht so richtig Fuß fassen. Nur ganz wenige haben sich in den vergangenen 20 Jahren zwischen der Insel Rügen und dem Elbsandsteingebirge gefunden, die ehrenamtlich Veranstaltungen organisieren oder an Schulen Vorträge halten. In Mecklenburg-Vorpommern ist der Verein gegen das Vergessen so gut wie gar nicht vertreten. Im Süden Deutschlands, in Bayern, Baden-Württemberg und Hessen gibt es an jeder Ecke ehrenamtliche Helfer. Hier oben im Nordosten, sagen die Vereinsverantwortlichen in Berlin ein bisschen verschämt, da seien die Leute ehrenamtlicher Arbeit nicht so zugetan. Nur einen einzigen Ansprechpartner habe man. In Greifswald. Rostock ist ein ganz weißer Fleck. Joachim Gaucks Nachfolger an der Spitze des Vereins, der ehemalige Leipziger Oberbürgermeister und spätere Bundesverkehrsminister Wolfgang Tiefensee ist an diesem Sonntag zum Gedenken an das Pogrom gar nicht erst angereist. Tiefensee, heißt es, weile im Ausland. Nicht in dienstlicher Mission.
Auch auf der Suche nach anklagenden, erklärenden oder mahnenden Worten des heutigen Bundespräsidenten Gauck aus der Zeit vor 20 Jahren wird man nicht fündig. Hat Gauck damals das brennende „Sonnenblumenhaus“ nicht wahrgenommen? Wollte er, der oberste und in Ostdeutschland nicht unumstrittene Hüter der Stasi-Unterlagen seinen Ruf zu Hause nicht noch weiter verschlechtern, indem er seinen einstigen Nachbarn Rassismus vorwarf? Hat es den Theologen nicht dazu gedrängt, seine Mitbürger zur Mitmenschlichkeit aufzurütteln? Nichts ist überliefert an Worten des doch so wortgewaltigen Joachim Gauck aus jenen Tagen.
„Was will Herr Gauck jetzt plötzlich hier?“, haben die Blogger im Internet aus dem Mecklenburger Antifa-Milieu schon lange vor den Feierlichkeiten an diesem Wochenende gefragt. Und gemeint, dass man lieber jeden Tag Dutzende von Demokratielehrern an die Schulen schicken sollte, als nur diesen einen berühmten Demokratielehrer, der nur einmal in 20 Jahren hierherkommt. Einige haben ihrem Protest dann auch während der Gedenkrede des Bundespräsidenten Luft gemacht. „Heuchler, Heuchler“ riefen sie dazwischen und ließen sich auch von noch so vielen Sicherheitskräften nicht abdrängen. Gauck hat sich sehr über die Störer geärgert, die er „Verwirrte“ nannte und mit den Radikalen von damals auf eine Stufe stellte. „Es ist Vergangenheit, was uns heute hier zusammenführt“, sagt er. „Aber es ist auch Gegenwart.“