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Das Fanal von Lichtenhagen: Die Rostocker scheuen die Schuldfrage

Hunderte griffen an, Tausende klatschten Beifall. In Rostock herrschte Pogromstimmung. Ausländer mussten um ihr Leben fürchten. Wolfgang Richter hat es als Ausländerbeauftragter miterlebt – und macht sich 20 Jahre später wieder Sorgen.

Von Torsten Hampel

Er merkt es immer wieder daran, dass er den Kopf wenden muss. Immer wenn Wolfgang Richter auf der Rostocker Stadtautobahn nach Norden fährt, ist es ihm unmöglich, nicht auf das große Haus hinterm Straßenrand zu schauen. Auch wenn er es sich vorgenommen hat. Er schaut dann nach links, hinüber auf eine freundlich gemeinte, mit einem Kachelmosaik versehene Fassade, drei riesige Sonnenblumenblüten auf kupferfarbenem Grund. Es ist die Stirnseite eines Neubaublocks in Rostock-Lichtenhagen. Sieben Aufgänge, elf Geschosse, ab dem sechsten ist die Ostsee zu sehen.

Richter schaut jedes Mal, und dann merkt er, es ist nicht vorbei. Seine Gedanken kommen auf das, was sich in diesem Haus und davor vor 20 Jahren abgespielt hat. Sie kommen auf Mordlust und auf abgebrühte Politiker und Behördenchefs und auf die vielen Schritte zum Besseren seitdem. In der letzten Zeit ist noch ein Gedanke dazugekommen. Der, dass sich seine Stadt möglicherweise wieder auf dem Rückweg befindet.

Lichtenhagen, Sonnenblumenhaus. Das sind jenseits von Rostock, also dort, wo die Menschen diese beiden Worte nicht täglich im Munde führen, keine Ortsangaben mehr, das sind dort Synonyme. Sie benennen einen Superlativ, ein im Nachkriegsdeutschland bis dahin unbekanntes Ausmaß an fremdenfeindlicher Gewalt. Sie stehen für das langlebige Bild vom hässlichen Ostdeutschen genauso wie für eine Art finale Beweisführung zugunsten neuer – je nach Sichtweise unmenschlicher oder vernünftiger – Asylgesetze.

Auch der damalige Ausländerbeauftragte Wolfgang Richter befand sich in dem Wohnheim, in das Jugendliche Molotowcocktails warfen.
Auch der damalige Ausländerbeauftragte Wolfgang Richter befand sich in dem Wohnheim, in das Jugendliche Molotowcocktails warfen.
© dpa

Am Abend des 24. August 1992, als Lichtenhagen und Sonnenblumenhaus aufhörten, nur Ortsangaben zu sein, führte Wolfgang Richter von hier aus mit der Feuerwehr folgendes Telefongespräch:

„Ja, passen Sie auf, ich erkläre es Ihnen ganz in Ruhe. Mecklenburger Allee 19, das Wohnheim der Vietnamesen, dort sind 150 Menschen drin, 150 Vietnamesen. Die Polizei hat sich zurückgezogen.“

„Ja.“

„Die Chaoten haben unten das Haus angesteckt.“

„Ja.“

„Die Gase kommen schon hoch, und sie kämpfen sich Stockwerk um Stockwerk hoch. Ich habe vor einer Dreiviertelstunde die Polizeiinspektion Lütten-Klein informiert.“

„Ja.“

„Es tut sich nichts.“

Es war der dritte Abend hintereinander, an dem Tausende vor dem Wohnblock standen, „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus“ schrien, klatschten, an dem Dutzende von ihnen Steine von den nahen Bahngleisen holten und gegen das Haus schmissen. Im Aufgang Nummer 18 befand sich Mecklenburg-Vorpommerns zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber, ein Asylbewerberheim also. Im Aufgang Nummer 19 lebten Vietnamesen. Wolfgang Richter war Rostocks Ausländerbeauftragter.

Die Bilder der Ausschreitungen von Rostock-Lichtenhagen im August 1992:

Das Asylbewerberheim war nach dem zweiten Abend geräumt worden, es war leer. Die Vietnamesen aber waren noch da. Die Polizei wiederum war auch weg, sie war gegen halb zehn abgezogen worden, so dass diejenigen, die Richter damals Chaoten nannte, unbehelligt und kanisterweise Benzin herbeischaffen konnten, es umfüllten in Flaschen, anzündeten und durch die Fenster warfen.

Aus dem Funkverkehr der Feuerwehr, die zur Zeit von Richters Anruf schon ganz in der Nähe war, aber alleingelassen: „Jugendliche dringen in das Gebäude ein, werfen Molotowcocktails auf Balkons. Ziehe mich zurück. Veranlassen Sie über Lagedienst, dass Polizeikräfte eingreifen.“ – „Haben Sie selbst schon Kontakt aufgenommen mit der Polizei?“ – „Bin ich noch nicht zu gekommen, weil hier auch kein Verantwortlicher weit und breit zu sehen ist.“ Stattdessen waren zu sehen: Feuer, hunderte Angreifer, Baseballschläger und Äxte.

„Die Polizeidirektion hat nicht begriffen, was hier vorgeht“

Wolfgang Richter, Jahrgang 1955, sagt von sich, „tja, die Bilder sind im Kopf. Die tauchen manchmal von selbst auf.“ Er sieht noch fast genauso aus wie damals. Seine große, gerade Statur und sein jungenhaftes Gesicht sind ihm geblieben. Seine Locken auch und der Bart, nur die Farbe ist aus ihnen entwichen, aus Schwarz ist Weißgrau geworden. Wer vor 20 Jahren alt genug gewesen ist, um Nachrichtensendungen zu schauen, würde ihn vielleicht wiedererkennen. Mit sich überschlagender Stimme hatte er damals in die Kamera eines ZDF-Reporterteams, das wie er und die Vietnamesen vom Feuer im Sonnenblumenhaus eingeschlossen gewesen ist, gesagt: „Die Polizeidirektion Lütten-Klein hat es nicht begriffen, sie haben es nicht begriffen, was hier vorgeht.“ Das ist ein eindrücklicher Moment gewesen. Vorm Fernseher sitzend konnte man eine Ahnung davon bekommen, wie Todesangst aussieht.

Die Bilder der Ausschreitungen von Rostock-Lichtenhagen im August 1992:

Die Sonne steht über Rostock. Richter sitzt in seinem Büro. Er trägt Sandalen. Ausländerbeauftragter ist er nicht mehr, seit zweieinhalb Jahren leitet er eine Abteilung einer gemeinnützigen GmbH, die Psychiatrien und Kindergärten betreibt. Die Firma hat 300 Angestellte, 22 davon sind Ärzte, 15 Psychologen und Psychotherapeuten und 90 Erzieher. 500 Patienten, 700 Kinder. Richters Büro sieht aus, wie Büros solcher Firmen oft aussehen. Es ist klein, hat weiße Wände und ein Fenster zur Hauptstraße, einfachste Furniermöbel und einen mit Papieren bedeckten Schreibtisch, keinen Schmuck.

Eineinhalb Kilometer entfernt bummelt der Urlauberschwarm durch die Altstadt. Er bestaunt die fast durchweg schönen Häuser und hält kurz inne, als fünf Russen in schwarzen Uniformen anfangen, „Kalinka“ zu singen. „Denöre, nor? Scheen.“ „Die san von der Schwarzmeerflotte.“ „Da musste schon mehr als fuffzich Cent in’n Hut lejen.“ Weiter draußen, im Norden, in Lichtenhagen hinterm Sonnenblumenhaus, mähen ein paar Leute vom Gartenamt den Rasen. Daneben liegt ein Mann im Gras und sonnt sich, und Richter hört es wachsen.

Aktenkundig geworden ist das ein paar Tage zuvor. Das Rostocker Stadtmagazin „Stadtgespräche“ hatte eine „Filmnacht Lichtenhagen“ veranstaltet, Dokumentarfilme über die Angriffe vom August 1992 wurden gezeigt, und hinterher wurde darüber gesprochen. Richter war auch da und teilte mit, dass er wütend sei. Er sei wütend über den mehr als ein Jahr zurückliegenden Umgang des Ortsbeirates Rostock-Evershagen mit einigen Leuten, die dort gern ein paar Beete angelegt hätten.

„Interkulturelle Gärten“ sollten es sein. Das war der Wunsch des Vereins Ökohaus Rostock, von dem die Idee dazu stammte und der das Ganze organisieren wollte. Interkulturelle Gärten. Der überambitionierte Name verleugnet ein wenig die Überschaubarkeit des Vorhabens. Im Kern ging es um 4000 Quadratmeter Hundekotwiese, die eingezäunt und parzelliert und mit Kräutern und Gemüse bepflanzt werden sollten, mit ausdrücklicher Einladung an Einheimische und Einwanderer, dabei mitzumachen. Die Idee dahinter ist, die Menschen übers Gärtnern miteinander ins Gespräch kommen zu lassen, über Fruchtfolgen, Kochrezepte, Saatgut. Sie würden dann merken, dass der Beetnachbar auch ein Mensch ist, und keine Gefahr. Dass man Gemeinsamkeiten hat.

Nach zwei Sitzungen des Ortsbeirates war die Idee erledigt.

Massive Einwände der Anwohner gegen die „Interkulturellen Gärten“

Richter, auf seinem Bürostuhl sitzend und immer noch voll verhaltenem Ärger, sagt: „In Vorpommern hätte mich das nicht gewundert. Hier schon. Hier ist das Klima eigentlich ein anderes.“

Aus dem Protokoll der ersten Ortsbeiratssitzung: „2 Anwohnerinnen aus dem betreffenden Areal: Das geplante Projekt wird an dem geplanten Standort in der Thomas-Morus-Str. als ungünstig empfunden. Man befürchtet große Lärmbelästigung.“ Auch der örtlichen Wohnungsgesellschaft lägen „E-Mails mit der Befürchtung zwecks Lärmbelästigung vor“. Aus dem Protokoll der zweiten Sitzung: „Da bis jetzt schon massive Einwände der Anwohner und Anwohnerinnen bekannt sind, wird das Projekt im vorgesehenen Umfeld wohl nicht durchgeführt.“ „Von den Anwohnern und Anwohnerinnen der Willi-Bredel-Str. und des Kranichweges wurde eine Unterschriftsliste gegen das Projekt an den Ortsbeirat übergeben. Die anwesenden Bürger möchten solch ein Projekt in ganz Evershagen nicht.“

Menschen, die bei den Sitzungen dabei gewesen sind, berichten, dass eine der Anwohnerinnen deutlicher wurde. Wollen Sie hier ein zweites Lichtenhagen?, soll sie gesagt haben. Ob dies eine Drohung war oder eine Befürchtung, darüber gehen die Meinungen auseinander.

Die Bilder der Ausschreitungen von Rostock-Lichtenhagen im August 1992:

Für Richter ist diese Unterscheidung zwischen „Ausländer raus“ und „Ausländer vorsichtshalber gar nicht erst her“ nebensächlich. Ihm geht es um den Beschluss der Ortsvertretung, der ist „ein Zurückweichen vor der Auseinandersetzung“, sagt er. Vor einer Auseinandersetzung um Gießkannenlärm, um den Lärm von Gesprächen über Radieschensorten.

Da wird „zurückgewichen“, sagt Richter, „und dann wird dieser Raum eingenommen von rechten Ideen. Da fehlt jeder politische Instinkt.“

Es ist die Methode „Aus den Augen, aus dem Sinn“. Vielleicht hätten die Ortsbeiräte vor ihrer Entscheidung einmal in die Rostocker Innenstadt gehen und Urlauber ansprechen sollen. Sofern sie auf welche aus westdeutschen Großstädten oder aus Berlin gestoßen wären, hätten die ein bisschen davon erzählen können, was es für Folgen hat, und zwar für alle, sich Einwanderer vom Leib halten zu wollen. Wie toll es läuft in den Vierteln, in denen die sich dann konzentrieren, was für isolierte und ressentimentgeladene Milieus dort gedeihen. Gerade sind die Ergebnisse einer Telefonumfrage unter Türken in Deutschland veröffentlicht worden. Fast ein Fünftel der Interviewten empfindet Juden als „minderwertige Menschen“, und zwar wörtlich. Ein Viertel denkt so über Atheisten. Die Hälfte hält Homosexualität für eine Krankheit.

Richter sagt, die Gartensache, „vor zehn Jahren wäre das hier nicht passiert. Da hatten wir Brisanteres hier, ein neues Asylheim zum Beispiel. Wohin damit, war die Frage, und die Antwort der Stadt darauf war: mitten rein, in ein Wohngebiet.“ Er sagt diese Sätze unter einigen Schmerzen, er möchte seiner Nachfolgerin im Amt der Ausländerbeauftragten keine Noten ausstellen, sagt er, und er wolle sich auch nicht im Glanz der eigenen Erfolge sonnen. Immer wieder weist er darauf hin, dass der Zeitungsartikel bitte nicht diesen Eindruck erwecken soll, es wäre ihm nicht recht, und es entspräche auch nicht den Tatsachen.

Aber es ist nun mal er, der gefragt wird. Er war damals im Sonnenblumenhaus, er war im Fernsehen, er ist die historische Figur. Richter weiß das und nimmt es hin. Er weiß auch, dass ihm wohl die Bestürzung über die Lichtenhagener Gewalt damals unübliche Möglichkeiten eröffnete. Jedenfalls hatte der eigentlich machtlose Ausländerbeauftragte der doch recht kleinen Stadt Rostock – bisherige Arbeitsplatzbeschreibung: zuhören, mahnen, bitten – nach dem August 1992 Zugang zu Ministerbüros und zu Staatssekretären. Die Politiker hörten nun ihm zu. Richter konnte fortan deren Entscheidungen beeinflussen. Kollegen aus anderen Städten beneideten ihn um seine guten Kontakte zum naturgemäßen Gegenspieler eines Ausländerbeauftragten, der örtlichen Ausländerbehörde.

Es wird wieder zurückgewichen in Rostock

Kollegen bescheinigten ihm andererseits aber auch eine außergewöhnliche Tatkraft. Und feine Antennen. Vielleicht sind sie zu fein, zu empfindlich? Die Sache mit den Beeten ist mittlerweile ausgestanden, zehn Deutsche und 60 Menschen von anderswo bewirtschaften nun 1500 Quadratmeter in einem anderen Stadtteil, in der Südstadt. Sie haben sich gerade einen Backofen gebaut, zum Fladenbrotmachen. Eine Japanerin, die an der Universität arbeitet, ist jeden Abend da und beseelt. Ein Mann aus Mauretanien kümmert sich zur Zufriedenheit der anderen um alles Organisatorische. Es gibt keine Klagen, alles ist gut im Moment. Worüber also genau ärgert sich Richter?

Es schleicht sich etwas ein. Vielleicht ist es die wachsende Entfernung zum Jahr 1992, vielleicht ist es auch etwas anderes. Der anfängliche Ärger mit den Gärten ist dafür nur ein Beispiel. Richter erwähnt andere Beispiele, vieles ist klein und für sich genommen unbedeutend. Er hat aber festgestellt, dass sie alle etwas einander Verbindendes haben. Es wird, er hat es schon ein paar Mal gesagt, wieder zurückgewichen in Rostock. Zurückgewichen, hier mal vor dem Argwohn einiger Menschen harkenden Ausländern gegenüber, dort vor der Erinnerung an 1992 und vor den Antworten auf die Frage, wer damals woran schuld gewesen ist. Richter jedenfalls stellt fest, immer werden die anderen für etwas in Haftung genommen, „mit dieser Haltung, es waren die anderen, verbaue ich mir doch die Möglichkeit, hier, bei mir was zu ändern“.

Die Bilder der Ausschreitungen von Rostock-Lichtenhagen im August 1992:

Dann holt er etwas aus dem Schrank. Es ist ein Handzettel. Er ist angefertigt von Mitarbeitern der Initiative „Lichtenhagen bewegt sich – Gemeinsam füreinander“, des Zurückweichens völlig unverdächtiger Leute. Die Veranstaltungen zum 20. Jahrestag sind daraufgedruckt, eine kurze Geschichte des Stadtteils und der Ereignisse vom August 1992. Vorn drauf steht „Rostock für Vielfalt und Toleranz“, und daneben steht der Satz: „Die Ausschreitungen wurden durch Rechtsextremisten aus ganz Norddeutschland angefacht, durch Jugendliche des Stadtteils unterstützt und von Anwohnern beklatscht.“

Vor ein paar Wochen hatte man Richter darum gebeten, einmal einen Blick auf den Zettel zu werfen, ob man den so verteilen könne. Richter las, und Richter änderte etwas. Nun steht dort: „Die Ausschreitungen wurden durch Jugendliche aber auch Erwachsene aus Rostock angefacht, durch Rechtsextremisten aus ganz Deutschland unterstützt und von tausenden Anwohnern beklatscht.“

Wer den Unterschied findet, der hat begriffen, was Wolfgang Richter sagen will.

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