Nach der Katastrophe in Beirut: Libanesen nehmen ihr Schicksal selber in die Hand
Die Einwohner Beiruts sind darauf eingestellt, den Wiederaufbau der Stadt alleine zu stemmen. Viele verfluchen die Rolle von Hisbollah und Iran.
Mazen Murr muss schmunzeln, als er vom Spott seiner Eltern früher berichtet. Sie sagten, wir, also die nach dem Bürgerkrieg Geborenen, seien die Generation Plastik. „Wie recht sie doch hatten“, lacht er.
Im schwer getroffenen Beiruter Stadtteil Geitawi, weniger als einen Kilometer entfernt vom Ort der größten und verheerendsten Explosion der Landesgeschichte, flattern Plastikbanner in den Fenstern und Türen von Wohnblocks.
Notdürftig, aber wahrscheinlich zumindest für Wochen, bis es wieder ausreichend Glas im Land gibt. Mazen Murr ist 29 Jahre alt, Architekt und einer der Organisatoren der „Nation Station“, einer von hunderten Initiativen, die in diesen Tagen den Wiederaufbau der verwundeten libanesischen Hauptstadt in Angriff nehmen. Die Trümmerbrigaden.
158 Libanesen wurden bei der Detonation von 2750 Tonnen Ammoniumnitrat im Hafen getötet, über 5000 verletzt. Die Opferzahlen steigen noch immer. Geschätzter Sachschaden obendrein: zwischen zehn und 15 Milliarden Dollar.
Der dysfunktionale, abwesende, verbrecherische Staatsapparat rührt bisher kaum einen Finger. „Wir sind jetzt hier der Staat“, ruft Mazens Freund John, ein Jungunternehmer.
Aktivisten übernehmen die Initiative
Hinter der alten Tankstelle, Hauptquartier und Namensgeber der Nation Station, werden Bretter zu neuen Türen verschraubt, vorne werden Reisgerichte serviert, Kleider und Hygieneartikel verteilt. Außerdem haben die jungen Aktivisten eine Datenbank aufgebaut und Helfer mit Formularen losgeschickt, um die verbliebenen Bewohner und Schäden im Viertel zu quantifizieren.
Auch hier übernehmen sie die Aufgabe einer nicht mehr existenten Verwaltung. Gestern sei Samir Gagea, einer der Bürgerkriegswarlords und aktuellen politischen Führer, durch das Viertel getourt, erzählt Mazens Ehefrau Josephine: „Mit hundert Polizisten, der wollte nur Fotos von sich.“ Auch von der Regierung und den anderen Parteien erwarte man weiterhin „rein gar nichts“, rufen die Freunde im Chor.
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Selbst die Ankündigung von Ministerpräsident Hassan Diab, Neuwahlen zu beantragen, mag die Libanesen nicht versöhnen oder beruhigen. Er sei dazu bereit, zwei weitere Monate im Amt zu bleiben, hatte der Regierungschef am Samstagabend erklärt.
Seine Bekanntgabe wirkte überfällig, nach der Explosion, die die Hauptstadt des Landes zur Hälfte zerstörte, nach einer beispiellosen Wirtschaftskrise und der Verarmung weiter Teile der Bevölkerung in den vergangenen Monaten.
Und während im Stadtzentrum von Beirut am Samstag noch Demonstranten von Sicherheitskräften mit Tränengas und teilweise sogar mit scharfer Munition beschossen wurden. Das Rote Kreuz und das Islamische Hilfskorps berichteten von insgesamt 728 zum Teil Schwerverletzten. Auch ein Polizist wurde bei den Auseinandersetzungen getötet.
„Die Hisbollah ist Teil des Problems“
Michael Young vom Carnegie Middle East Center in Beirut, einer der entschiedensten Kritiker der Schiitenmiliz, sieht in der Katastrophe vom Dienstag zumindest einen positiven Nebeneffekt: „Alle Libanesen wissen jetzt, dass Hisbollah Teil des Problems ist.“
Die Miliz, die sich lange als Widerstandskraft gegen die israelische Besatzung des Südens und als Anti-Establishment-Kraft inszenierte, werde nun als Beschützer und Teil des konfessionellen Politsystems wahrgenommen. Auch seien die Umstände der Explosion im Hafen weiterhin so undurchschaubar, dass viele Libanesen dort auch ein geheimes Lager der Gruppe vermuten. „Nicht zuletzt wird die Hisbollah für die Isolation des Landes von der arabischen Welt verantwortlich gemacht“, sagt Michael Young.
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Tatsächlich waren am Rande der Proteste am Samstag in Beirut auch neue Graffitis zu sehen: „Iran raus“ und „Hisbollah-Terroristen“. Selbst Verunglimpfungen des Milizführers Hassan Nasrallah konnte man dort vernehmen, davor hatten sich viele Demonstranten noch während der großen Revolte im Oktober gefürchtet.
Alle wissen, was es vor allem braucht: Gegenseitige Hilfe
Es wird für die kurz- und mittelfristige Entwicklung des Libanons entscheidend sein, ob die Hisbollah, wenn auch nur vorübergehend, das Feld räumt. Denn mit ihr ist eine neue, internationale zumindest halbwegs akzeptierte Regierung unter sunnitischer Führung, etwa mit Ex-Premier Saad Hariri an der Spitze, nicht vorstellbar. Mit ihr werden keine Milliardenkredite fließen. Das Land aber steht unmittelbar vor der Pleite, steckt eigentlich schon mitten darin.
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„Vielleicht werden sie tatsächlich einer Regierung der Wirklich-Unabhängigen Platz machen“, denkt Michael Young, „aber nur, um sich eine Weile aus der Aufmerksamkeit und dem Schussfeld zu nehmen und um das Versagen dieser Regierung von außen zu betreiben.“
Sollte es wirklich zu Neuwahlen kommen, wissen Mazen Murr und seine Freunde schon jetzt, „dass wir uns selbst organisieren müssen, um Kandidaten zu finden und Listen aufzustellen.“ Dann bräuchten sie auch die Hilfe internationaler Beobachter, sagt seine Frau Josephine. Vor allem aber ginge es um die Unterstützung und den Zusammenhalt der Menschen: „Wie in diesen Tagen in Beirut.“
Thore Schröder
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