Abmarsch nach Brüssel: Leyen soll Chefin der EU-Kommission werden
Weil keiner der Spitzenkandidaten mehrheitsfähig war, soll die deutsche Verteidigungsministerin die EU-Kommission führen. Doch im Parlament gibt es Widerstand.
Überraschende Wendung im EU-Postenpoker: Da kein Spitzenkandidat der Europawahl mehrheitsfähig war, haben die EU-Staats- und Regierungschefs die deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) für das Amt der EU-Kommissionspräsidentin nominiert. Aber aus dem Europaparlament, das die Personalie bestätigen muss, kam massiver Widerstand gegen von der Leyen. Sie stand in Deutschland wegen einer Berateraffäre zuletzt in der Kritik, dies führte auch zu einem Untersuchungsausschuss im Bundestag.
Auch die SPD lehnt die Nominierung der CDU-Politikerin als neue EU-Kommissionspräsidentin ab. Dass mit der bisherigen Bundesverteidigungsministerin eine Politikerin zum Zuge komme, die „überhaupt nicht zur Wahl gestanden hat, kann nicht überzeugen“, erklärten die kommissarischen SPD-Vorsitzenden Malu Dreyer, Manuela Schwesig und Thorsten Schäfer-Gümbel am Dienstagabend. „Damit würde der Versuch, die Europäische Union zu demokratisieren, ad absurdum geführt.“
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) teilte am Abend mit, dass sie sich bei der Nominierung Leyens als Chefin der EU-Kommission enthalten habe, weil sich die große Koalition in Berlin nicht einig gewesen war. Alle anderen 27 EU-Staaten hätten dem Vorschlag dagegen zugestimmt. Merkel betonte noch einmal, dass sie alles getan habe, das Prinzip der Spitzenkandidaten umzusetzen. Sie habe eine faire Lösung für die Spitzenkandidaten bei der Europawahl, Manfred Weber von der CSU und den niederländischen Sozialdemokraten Frans Timmermans, gesucht. Das sei nicht gelungen. Nun solle gemeinsam mit dem Europaparlament ein Verfahren besprochen werden, wie eine solche „missliche Situation“ in Zukunft vermieden werden könne.
Die Entscheidung war am Dienstag bei einem EU-Sondergipfel in Brüssel gefallen, wie EU-Ratspräsident Donald Tusk mitteilte. Zuvor hatte es viele Vorbehalte gegen Weber und Timmermans als Nachfolger von Jean-Claude Juncker gegeben. Zunächst hatte sich der französische Präsident Emmanuel Macron gegen Weber gestellt, da er zu unerfahren sei. Dann hatte Bundeskanzlerin Merkel eingewilligt, den Sozialdemokraten Timmermans zu unterstützen. Doch vor allem Ungarn, Polen, Tschechien und die Slowakei machten dagegen mobil, da Timmermans mehrere Vertragsverletzungsverfahren gegen osteuropäische Staaten als bisheriger Vizepräsident der Kommission geführt hatte.
Im schwierigen Ringen zwischen 28 Staaten, einem Mann-Frau-Proporz und einer Abbildung der Mehrheitsverhältnisse nach der Europawahl legte Tusk dem Gipfel am Dienstag schließlich folgendes Paket vor: Neben von der Leyen soll die ebenfalls zum konservativen Lager gehörende bisherige IWF-Chefin Christine Lagarde aus Frankreich neue Präsidentin der Europäischen Zentralbank (EZB) werden. Der liberale belgische Ministerpräsident Charles Michel war als EU-Ratspräsident im Gespräch und der spanische Außenminister Josep Borrell, ein Sozialist, als EU-Außenbeauftragter vorgesehen. Der frühere bulgarische Ministerpräsident Sergei Stanishev soll sich demnach mit dem Fraktionschef der Europäischen Volkspartei (EVP), Manfred Weber, die fünfjährige Präsidentschaft im europäischen Parlament teilen. Timmermans und die dänische EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager (Liberale) könnten beide Vizechefs der EU-Kommission werden.
Die Chefin des Internationalen Währungsfonds, Christine Lagarde, zeigte sich erfreut über die Nominierung für den EZB-Präsidentenposten. Die 63-Jährige kündigte auf Twitter zugleich an, ihre Aufgaben als IWF-Chefin während der Nominierungsphase vorübergehend abzutreten. CSU-Vize Weber legte am Abend sein Mandat als Spitzenkandidat der konservativen Europäischen Volkspartei (EVP) nieder.
Von der Leyen spricht fließend Englisch und Französisch, wurde in Brüssel geboren und hat sich auch auf Nato-Ebene hohes Ansehen erworben. Nachdem Merkel zunächst in der Defensive war, gelang ihr mit dem mit Macron ausgehandelten Tableau eine Überraschung. Der frühere Präsident des Europaparlaments, Martin Schulz (SPD) reagierte mit scharfer Kritik: „Das ist ein Sieg von Viktor Orban und seinen rechtsextremen Verbündeten in Europa“, sagte er dem Tagesspiegel. „Da fasst man sich nur noch an den Kopf.“ (mit dpa/AP)