Muslime in Deutschland: Leben wir in Parallelgesellschaften?
"Friedensrichter", die unter der Hand finanziellen Ausgleich zwischen Täter und Opfer aushandeln. Salafistische Zellen in Berlin, die sich abschotten: Offenbar halten nicht alle religiösen Gruppen deutsches Recht für bindend. Wie weit darf das gehen?
IS-Terror im Irak und in Syrien, Angst vor Dschihad-Rückkehrern, Empörung über „Scharia-Polizei“-Patrouillen in Wuppertal: In Deutschland steht der Islam in der öffentlichen Wahrnehmung so schlecht da wie schon lange nicht mehr. Auch Politik und Justiz sind zunehmend besorgt.
Welche Anzeichen gibt es in Deutschland für eine Parallelgesellschaft?
Immer wieder berichten Beratungsstellen davon, dass muslimische Frauen gegen ihren Willen verheiratet werden. Eine Studie des Familienministeriums ging 2011 von mindestens 3400 zwangsverheirateten Frauen und Männern in Deutschland aus. Im selben Jahr wurde die Zwangsehe unter Strafe gestellt. Polizisten und Richter haben auch immer wieder mit selbst ernannten „Friedensrichtern“ zu tun, die ihnen erklären, dass Clans ihre Angelegenheiten vermeintlich lieber alleine regeln – ohne die staatliche Justiz.
Der Journalist Joachim Wagner hatte für sein 2011 veröffentlichtes Buch „Richter ohne Gesetz“ 16 Berliner Kriminalfälle rekonstruiert, in denen die Beweislage zunächst eindeutig zu sein schien. Doch dann zogen die Opfer ihre Anzeigen zurück, Zeugen konnten sich plötzlich an nichts mehr erinnern und beriefen sich auf das Auskunftsverweigerungsrecht. Anwälte, Richter und Polizei vermuteten, dass in diesen Fällen „Friedensrichter“ aktiv geworden seien. Während sich die staatlichen Ermittler um Aufklärung bemühten, würden die „Friedensrichter“ unter der Hand einen finanziellen Ausgleich zwischen Opfer- und Täterfamilien aushandeln. Wie verbreitet solche Fälle sind, vermag niemand einzuschätzen. Sie sind bisher im Umkreis von kurdisch-libanesischen, libanesischen und palästinensischen Clans und im Zusammenhang mit organisierter Kriminalität vorgekommen.
Mehr als die Fälle von Paralleljustiz macht dem Verfassungsschutz zurzeit die Tatsache zu schaffen, dass sich salafistische Zellen gründen. Sie predigen einen fundamentalistischen Islam, der vermeintlich über allem weltlichen Recht steht, und schotten sich von der Öffentlichkeit und staatlichen Behörden ab. In Neuköllner Wohnungen und Kellern haben sich in den vergangenen Wochen allein zwei derartige Zellen gebildet. Die Prediger locken vermehrt Jugendliche und junge Männer dorthin, um sie für den „Heiligen Krieg“ im Irak und in Syrien zu gewinnen.
Wie geht die Politik damit um?
Die Bundesregierung hat in der vergangenen Woche auf die Patrouille der sogenannten „Scharia-Polizei“ in Wuppertal reagiert und die Extremistengruppe „Islamischer Staat“ in Deutschland verboten. „Der IS ist eine Bedrohung – auch für die öffentliche Sicherheit in Deutschland“, sagte Innenminister Thomas de Maizière (CDU). Das Verbot sei ein „klares und richtiges Signal eines wehrhaften Staates“, sagte Justizminister Heiko Maas (SPD). Man werde keine „Scharia-Polizei“ und sonstige Paralleljustiz dulden.
Doch viele befürchten, dass es damit längst nicht getan ist. Das Verbot des IS nehme den Extremisten nichts von ihrer Anziehungskraft auf einen Teil der in der Bundesrepublik aufgewachsenen jungen Menschen, sagte Arnold Plickert, der Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP). Die Politik blende oft aus, dass viele Salafisten zum Islam konvertierte Deutsche seien. Laut Bundesamt für Verfassungsschutz sind seit 2012 allein mehr als 400 kampfbereite deutsche Islamisten nach Syrien ausgereist.
Die Frage ist, was passiert, wenn diese wieder heimreisen. Wer nach Deutschland zurückkehre, um hier Straftaten zu verüben, werde „die volle Härte des Strafrechts spüren“, sagte Maas. Für geläuterte deutsche IS-Terroristen will er ein Aussteigerprogramm initiieren. Um deutsche Islamisten daran zu hindern, überhaupt in den bewaffneten Kampf nach Syrien oder in den Irak zu ziehen, hat die Union vorgeschlagen, Personalausweise entsprechend zu markieren und im Zweifel die Pässe einzuziehen.
Welche Rolle spielt Religiosität im deutschen Recht?
Wie sich Frauen in Deutschland kleideten, welche Musik sie hörten und wie sie ihre Freizeit verbrächten, entscheide jeder für sich selbst, sagte Maas beim Juristentag. Doch gebe „kein Glaube, keine Religion jemandem das Recht, die Freiheit seiner Mitbürger einzuschränken“. Im Übrigen solle niemand Provokateuren auf den Leim gehen. Begingen sie Straftaten, seien sie ein Fall für Justiz und Polizei. „Eine bestimmte kulturelle und religiöse Prägung kann nicht davon befreien, Recht und Gesetz zu beachten.“
Eine Absage erteilten Experten den Vorstößen, kulturell-religiöse Hintergründe bei der Strafzumessung zu berücksichtigen, wie es etwa unter dem Stichwort „Ehrenmord“ diskutiert wird. „Nur in ganz besonders gelagerten Ausnahmefällen“ könne dies nach verfassungsrechtlicher Rechtsprechung Art und Maß einer Sanktion beeinflussen, sagte der Richter am Bundesverfassungsgericht Wilhelm Schluckebier. Die Berliner Strafrechtsprofessorin Tatjana Hörnle fordert Gerichte auf, Verweise auf „fremde Kulturkreise“ und undifferenzierte Urteile über große Religionen wie den Islam zu vermeiden. Aufzugeben sei die Rechtsprechung, die auf die Rechtsordnung im Herkunftsland des Täters abstelle.
Wie bewerten Experten Paralleljustiz?
„Eine Paralleljustiz, die sich als Selbstorganisation einer Minderheit begreift, ist nicht hinnehmbar; sie gefährdet das staatliche Gewaltmonopol“, schreibt der Karlsruher Anwalt Michael Rosenthal in einer Stellungnahme für den Juristentag. Paralleljustiz sei ein Anzeichen für die Etablierung von Parallelgesellschaften. Daraus folge aber nicht zwingend, dass „die Integration gescheitert“ sei; das Phänomen könne auch Anlass geben, die eigenen Verhaltensweisen zu überdenken.
Ein legitimes Einfallstor für Interventionen etwa muslimischer „Friedensrichter“ sieht der Anwalt im gesetzlich geregelten Täter-Opfer-Ausgleich, der zu Strafmilderungen führen kann, wenn sich der Täter ernsthaft um Entschuldigung und Entschädigung bemüht. Der Täter-Opfer-Ausgleich sei „die wesentliche rechtliche Nahtstelle, die zur Integration von Schlichtungsbemühungen Dritter zur Verfügung steht“. Es handele sich dabei um „private Konfliktbewältigung“, die in dieser Funktion das ihr zugedachte Gewicht bekommen solle. Es dürfe sich dabei jedoch nicht um eine Art des „Freikaufens“ handeln.