Tante des toten Jungen: "Lasst den Tod von Alan nicht umsonst sein"
"Ich kann das Bild von ihm nicht mehr anschauen": Die Tante des toten Alan fordert sichere Fluchtwege, um ein weiteres Sterben von Flüchtlingen zu verhindern. Ein Appell.
Meine Neffen Alan und Ghalib wurden während des Kriegs in Syrien geboren. Sie starben zusammen mit ihrer Mutter Rehen, während der Krieg weiterhin wütet. Den Tod im hohen Alter erleben mittlerweile viel zu wenige Syrer. Es macht mich tieftraurig, dass wir der Jungen mit Namen gedenken, die ihnen nicht gehören: Sie heißen Alan, nicht Aylan, und Ghalib, nicht Galip (Aylan war der Name, den er in der Türkei erhielt und den türkische Medien nutzten).
Die Menschen aus meinem Land haben nur zwei Möglichkeiten: Sie können zu Hause bleiben und versuchen, den anscheinend endlosen Krieg zu überleben; möglicherweise in trostlosen Flüchtlingslagern ihr Dasein fristen. Oder sie können alles riskieren, in ein Boot steigen und Sicherheit suchen. Es ist eine Wahl, vor die niemand gestellt werden sollte.
Ihr Tod hat uns das Herz gebrochen
Mein Bruder musste diese unmögliche Entscheidung treffen und nun sind meine Neffen und meine Schwägerin tot – genau wie tausende weitere Menschen. Abdullah hat alles Menschenmögliche getan, um sie über Wasser zu halten, so wie jeder Vater es tun würde. Doch sie sind ihm aus den Händen gerutscht, seine gesamte Familie, von den Wellen erschlagen, die über dem gekenterten Boot brachen. Ihr Tod hat uns das Herz gebrochen, nichts als Leere und Taubheit hinterlassen.
Für meinen Bruder und seine Frau waren die Kinder ihr ein und alles. Alan und Ghalib liebten Abdullah – ich sprach oft mit dem vierjährigen Ghalib, hörte Alan im Hintergrund lachen und spielen. Ich weine jeden Tag bei dem Gedanken an sie, frage mich, warum gerade sie, warum wir und warum nicht ich?
Als Alan fotografiert wurde, wie er leblos am Strand lag, war es, als sei er zur Nachricht Gottes geworden, die die Welt wachrüttelt und ihr die Krise vor Augen hält. Ich kann das Bild von ihm nicht mehr anschauen. Doch ich weiß, dass Millionen es gesehen haben. Der Anblick seines kleinen Körpers hat viele Menschen zutiefst berührt und ihnen gezeigt, dass meine Mitbürger einfach nur unschuldige Opfer sind. Sie fliehen, weil sie müssen, nicht weil sie wollen.
Der Terror in Syrien hat unfassbar viele Opfer gefordert. Über 250000 Menschen sind gestorben. Über neun Millionen mussten ihre Häuser verlassen. Es gibt vier Millionen Flüchtlinge. Allein in diesem Jahr haben 2800 Menschen auf dem Meer ihr Leben verloren. Es sind so viele kleine Kinder wie Alan unter ihnen, die in Europa Rettung vor Kriegen suchen, die sie nicht verursacht haben.
Wenn die Angst gewinnt, verlieren wir alle
Der Krieg in Syrien spielt sich vor Europas Haustür ab. Die Flüchtlingslager im Nahen Osten sind überfüllt und unterfinanziert. Mein Bruder versuchte, zu überleben, hatte in der Türkei aber kein Leben. Er arbeitete in einer Textilfabrik und auf Baustellen, kam gerade so über die Runden.
Zu viele Menschen brauchen Hilfe und sie werden mit zu wenig Menschlichkeit begrüßt. Um diese humanitäre Katastrophe zu beenden, brauchen die Flüchtlinge sichere und legale Wege ins Asyl. Nur so können wir verhindern, dass sie diese furchtbaren Risiken eingehen. Offene Arme müssen sie empfangen, nicht Stacheldraht an den Grenzen! Wenn die Angst gewinnt, verlieren wir alle. Ich hoffe, dass sich die Politiker in den nächsten Tagen auf eine Lösung in der Flüchtlingskrise einigen werden. Dass sie einen fairen Plan verabschieden, um Menschen aus Syrien zu helfen, anstatt sie abzuweisen.
Die Arbeit von vielen Menschen in Europa, die ihre Türen geöffnet, Lebensmittel gespendet und eine menschliche Flüchtlingspolitik gefordert haben, haben mir geholfen, die dunkelsten Momente zu überstehen . Es war ein kleines Licht in der Dunkelheit, das Alan für die Tausende von Kindern hat aufleuchten lassen, die unsere Hilfe brauchen.
Syrer, die geflohen sind, glauben nicht mehr, dass sie je zurückkönnen. Sie stünden dort vor dem Nichts, es ist kein Ende in Sicht. Wir müssen diesen furchtbaren Krieg stoppen und werden dafür die führenden Politiker der Welt brauchen.
Unsere Familien wurden einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort geboren. Meine Mitbürger und alle, die vor Kriegen fliehen, riskieren ihr Leben und nehmen alles in Kauf, um über die Grenzen zu kommen, weil sie ihre Familien lieben. In den nächsten Tagen kann Europa Menschlichkeit beweisen und endlich beschließen, tausenden verzweifelten Familien Zuflucht zu gewähren. Ich rufe alle von Ihnen auf, Ihre Herzen und Türen zu öffnen. Im Namen von Alan appelliere ich an jene, die die Macht haben, etwas zu tun: Lassen Sie seinen Tod nicht umsonst sein.
Fatima Kurdi sprach am Montag auf Einladung der Bürgerbewegung „Avaaz“ in Brüssel.
Fatima Kurdi