zum Hauptinhalt
Ein Anschlag der Taliban in Kabul hat am Dienstag viele Opfer gefordert.
© dpa

Flüchtlingskrise: Lage in Herkunftsländern bleibt kritisch

Trotz diplomatischer und militärischer Initiativen: In Ländern wie Libyen, Syrien, Afghanistan oder Somalia hat sich wenig verbessert.

Wieder sind womöglich hunderte Flüchtlinge im Mittelmeer ertrunken. Die meisten stammten wohl aus Afrika und wollten nach Europa. Auch aus anderen Kriegs- und Krisenregionen machen sich weiter Menschen auf den Weg. Die internationale Gemeinschaft hat zahlreiche diplomatische und militärische Initiativen gestartet, um einige der schlimmsten Konflikte zu lösen. Große Erfolge zeichnen sich nicht ab. Ein Überblick.
Libyen
Obwohl Libyen nach dem Ende des Regimes von Muammar al Gaddafi im Jahr 2011 in einen Bürgerkrieg versank, blieb das Land Anlaufpunkt für Flüchtlinge, die von hier aus mit Booten nach Italien übersetzen. Schleuserbanden profitierten sogar vom Chaos, denn die staatliche Ordnung war faktisch zusammengebrochen. Im vergangenen Monat gab es zwar einen Hoffnungsschimmer, als der Ministerpräsident einer von den UN vermittelten Einheitsregierung, Fajes al Sarradsch, unter starken Sicherheitsvorkehrungen von Tunesien in die libysche Hauptstadt Tripolis zurückkehrte. Doch seine Regierung ist bisher nicht handlungsfähig.
Am Montag beschlossen die EU-Außenminister in Luxemburg, Regierungschef al Sarradsch beim Wiederaufbau der Küstenwache, des Grenzschutzes und anderer Sicherheitsbehörden zu unterstützen. Die Hilfe der Europäer bei der Bekämpfung der Schlepper in libyschen Hoheitsgewässern forderte al Sarradsch allerdings nicht an. Der vor einem Jahr angelaufene EU-Marineeinsatz zur Rettung von Flüchtlingen und zur Bekämpfung von Schleusern wird daher zunächst auf internationale Gewässer beschränkt bleiben. Nach den Worten von Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) könnte jedoch demnächst auf Ebene des UN-Sicherheitsrates die Frage diskutiert werden, ob EU-Soldaten die Einhaltung des Waffenembargos gegen Libyen kontrollieren können – so soll verhindert werden, dass Waffen in die Hände der Terrormiliz „Islamischer Staat“ gelangen.
Dass Libyen Europa kurzfristig dabei helfen kann, den Flüchtlingsandrang zu begrenzen, gilt als unwahrscheinlich. Auch der UN-Beauftragte für Libyen, Martin Kobler, geht nicht davon aus, dass mit dem nordafrikanischen Land noch in diesem Sommer ein Abkommen wie mit der Türkei zustande kommt. „Für die Regierungsmitglieder geht es jetzt erst mal darum, die Kontrolle über die Beamten in den Ministerien zu bekommen“, sagte der Diplomat kürzlich in Berlin. Hinzu kommt: Weite Teile des Landes werden von konkurrierenden Milizen beherrscht. Ganz abgesehen davon, dass der „Islamische Staat“ das Machtvakuum nutzt, um in Libyen weiter Fuß zu fassen. Bis zu 6000 Kämpfer soll es bereits geben. Damit hat sich deren Zahl in den vergangenen Monaten fast verdoppelt.
Syrien
Der Friedensprozess für Syrien steht wieder einmal vor dem Scheitern. Der Waffenstillstand wird kaum noch eingehalten, die Verhandlungen zwischen Regierung und Opposition in Genf kommen nicht voran. Der Sprecher des Hohen Verhandlungskomitees (HNC) der Opposition drohte am Dienstag sogar damit, die Gespräche aufzukündigen, sollte das Regime Hilfsorganisationen nicht unverzüglich Zugang zu allen syrischen Städten ermöglichen. Hunderttausende sind dort von der Versorgung abgeschnitten. Auch die Waffenruhe müsse wieder eingehalten werden, forderte der Sprecher. „Wir können nicht am Verhandlungstisch sitzen, während Menschen durch Bomben, an Hunger oder wegen einer Belagerung sterben“, sagte Riad Hidschab. In den vergangenen Tagen seien 400.000 Syrer in Richtung türkische Grenze geflohen. Das bestätigten auch Ärzte ohne Grenzen. Die Organisation berichtet zudem, dass 100.000 Syrer im Raum Aleppo zwischen den Fronten feststeckten. Syriens Regierung zeigt sich davon wenig beeindruckt. Machthaber Baschar als Assad ließ vergangene Wochen sogar Parlamentswahlen abhalten. Laut Regierungsangaben gewann Assads Baath-Partei dabei 200 von insgesamt 250 Sitzen.
Afghanistan
Afghanistan ist fast völlig aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden, seit die internationalen Kampftruppen das Land verlassen haben. Ein schwerer Anschlag in Kabul lenkte am Dienstag dann aber doch wieder die Aufmerksamkeit auf den Hindukusch. Mitten in der afghanischen Hauptstadt griffen die Taliban am Dienstagmorgen eine Sicherheitsbehörde in der Nähe des Präsidentenpalastes an. Mindestens 28 Menschen kamen ums Leben, mehr als 300 wurden verletzt. Die meisten Toten waren Mitarbeiter des Geheimdienstes NDS, unter den Opfern sind aber auch Zivilisten. Ein Taliban-Sprecher bestätigte, dass die Radikalislamisten für die Tat verantwortlich sind. Sie hatten erst vor wenigen Tagen eine Frühjahrsoffensive angekündigt. Terroranschläge gegen Regierungseinrichtungen oder ausländische Diplomaten sind Teil dieser Offensive – zivile afghanische Opfer werden dabei bewusst in Kauf genommen.
Die Afghanen leben seit Jahren mit den Gefahren. Ein Grund für die Massenflucht nach Europa sind sie eher indirekt. Denn die schlechte Sicherheitslage lähmt nicht nur den Aufbau der Wirtschaft, sie führt auch dazu, dass immer mehr Familien keine Perspektive für sich und ihre Kinder sehen. Nach Angaben des afghanischen Innenministeriums mussten 2015 nicht weniger als 615 Schulen schließen, weil die Sicherheit der Schüler nicht mehr gewährleistet werden konnte. Die UN zählten mehr als 130 Angriffe auf Schulen und Lehrer. Besonders betroffen sind Mädchenschulen. „2015 war das bisher blutigste Jahr in Afghanistan, und Kinder traf es besonders hart“, analysiert das Afghanistan Analysts Network, ein Zusammenschluss unabhängiger Experten. Eines von vier Opfern des Krieges in Afghanistan sei ein Kind. In diesem Jahr starben laut UN dort bereits 1943 Menschen – die Toten vom Dienstag nicht mitgezählt.

Somalia

Somalia gehört nach wie vor zu einem der Hauptherkunftsländer von Flüchtlingen, die nach Deutschland kommen. Auch auf den Booten, die am Montag auf dem Weg von Ägypten nach Italien sanken, saßen sehr viele Somalier. Die Übergangsregierung, die in diesem Jahr noch Wahlen veranstalten will, hat aber nur über einen kleinen Teil des Landes die Kontrolle – und das auch nur mithilfe der Friedenstruppe der Afrikanischen Union, Amisom. Ihr Einfluss reicht nur unwesentlich über die Hauptstadt Mogadischu hinaus. Selbst dort gelingt es Terroristen der islamistischen Al-Schabaab-Miliz immer noch regelmäßig, Selbstmordattentäter loszuschicken und zum Teil verheerende Anschläge zu verüben. In den vergangenen Jahren waren immer mehr Somalier statt über das Mittelmeer über das Rote Meer nach Jemen geflüchtet. Seit dort Krieg ausgebrochen ist, treten viele wieder den Rückweg an – und flüchten dann weiter nach Libyen, um es von dort womöglich doch nach Europa zu schaffen.

Zur Startseite